Woran es in der Erinnerungskultur der Russlanddeutschen hapert

Russlanddeutsche haben eine bewegte Geschichte voller Höhen und Tiefen. Ihr kollektives Gedächtnis wird von zwei konträren Episoden bestimmt. Nur durch die Verbindung dieser beiden kann man Russlanddeutsche verstehen. Und so eine lebendige Erinnerungskultur schaffen, die auch in Deutschland akzeptiert wird, meint Edwin Warkentin, Referent im Museum für Russlandeutsche Kulturgeschichte.

Keine Gegenwart ohne Vergangenheit. Für viele Russlanddeutsche ist nicht eindeutig, wie diese genau aussieht. (Collage: IVDK)

Russlanddeutsche sind, wie viele andere Minderheiten oder Gruppen mit Migrationserfahrungen, Experten darin, wie es ist, zwischen den Stühlen zu sitzen. Ob nun Heimatvorstellungen, kulturelle Identität oder das Gruppengedächtnis: Sie alle weichen von nationalen Erinnerungskonzepten ab.

Nie bilden die zentralen Momente dieser Gruppennarrative das große Ganze im Kleinen ab und schon gar nicht stehen sie jeweils für das andere. Sie waren und sind das Ergebnis großer Wanderungen, verschiedenster Herkunft und vielfältiger Einflüsse durch kulturellen Austausch über Zeiten und Generationen.

Dass die Gemengelage von Kollektivmotiven viel komplexer ist als eine vermeintliche Dualität zwischen hier und dort, bereichert sie und die Gesellschaften, in denen sie leben. Dies stellte zuletzt Gusel Jachina in ihrem Roman „Wolgakinder“ beeindruckend unter Beweis. Aber wie der Titel des Romans vermittelt, spielt sich die Erzählung im Mikrokosmos einer der vielen Gruppen von Siedlern deutscher Herkunft in Russland ab, was auf eine spannende Binnenvielfalt hindeutet.

Russlanddeutsches Narrativ diskontinuierlich und tabuisiert

In Hinsicht auf das Aushandeln gemeinsamer historischer Selbstbetrachtungen zu einem offiziellen Narrativ ist wichtig festzuhalten, dass es durch Diskontinuitäten, Ideologisierung und Tabuisierung gekennzeichnet war. Kurze Etablierungsphasen eines eigenen historischen Bewusstseins der Russlanddeutschen am Anfang des 20. Jahrhunderts wurden durch Repressionen gegen einzelne Wissensträger und durch die allgemeine Tabuisierung nicht fortgesetzt. Für die Mehrheit der Betroffenen in der Sowjetunion stellte lediglich die mündliche und subjektive Überlieferung in den Familien die einzige Quelle für ein historisches Bewusstsein dar. 

Komplexität, Vielfalt und Diskontinuitäten sind die zentralen Herausforderungen für eine Person, die von dieser Geschichte betroffen ist. Was kann und soll sie über ihre historische Herkunft erzählen, wenn ihr weitestgehend die Kenntnisse darüber fehlen? Wie soll sie mit diesem Wissen zu einer Identität im Einklang mit den allgemeinen Ansichten finden? 

In der Auseinandersetzung mit dem Vergangenen werden Fragen an die Gegenwart gestellt. Mit der Antwort auf die Frage „Was dürfen wir nicht vergessen?“ definiert ein Erinnerungskollektiv laut Jan Assmann die Hauptstränge dessen, was diese Menschengruppe in histo­rischer Perspektive zusammenhält. Für das heutige Deutschland sind es vor allem die kritische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur und des SED-Regimes. 

Welche Motive sind für Russlanddeutsche wichtig?

Moderne Erinnerungskultur ist im Gegensatz zu Erinnerungsritualen dynamisch und flexibel. Sie wird durch die Gesellschaft gestaltet und reagiert auf aktuelle Entwicklungen. Insofern müsste die Frage um ein „Was dürfen wir nicht vergessen, um uns die Gegenwart zu erklären?“ ergänzt werden. 

Für russlanddeutsche Kontexte stellt sich dann die Frage, welche Motive sind für ihre historische Selbstvergewisserung wichtig und wie sollen sie formuliert werden, damit sie eine gesellschaftliche Relevanz im Netzwerk der nationalen Erinnerungen erreichen.

Unter diesem Aspekt kann nicht oft genug betont werden, dass es sich bei Russlanddeutschen um einen Sammelbegriff handelt, der in der historischen Perspektive zwei zentrale Motive umfasst. Zum einen, die Anwerbung durch rus­sische Zaren zur Kolonisierung der Reichsperipherie im 18. und 19. Jahrhundert. Zum anderen das kollektive Kriegsfolgenschicksal im 20. Jahrhundert infolge administrativer Repressionen in der Sowjetunion, ausgelöst durch den Überfall der Wehrmacht im Juni 1941.

Verständnis für die Auswanderung sehr wichtig

Bezogen auf das zweite Motiv wird von einer Schicksalsgemeinschaft gesprochen, die ehemals unterschiedliche Gruppen im gemeinsam Erlebten vereint. Zusätzlich kommt für die Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft die kollektive Erfahrung der Aussiedlung und Integration hinzu, die jedoch kausal mit dem Kriegsfolgenschicksal korreliert.

Für die heute in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Angehörigen dieses Erinnerungskollektivs jüngerer Generationen wird es zunehmend wichtig, die Motive für die Aussiedlung ihrer Eltern zu erfassen, um sich gegenüber der Gesamtgesellschaft über Herkunft oder Zugehörigkeit sinnvoll erklären zu können. Hier sind sie durch die Sozialisation in die offiziellen Geschichtsnarrative der Bundesrepublik hinlänglich befähigt, das Individualschicksal ihrer Familie in Einklang mit gesellschaft­lichen Konventionen zu bringen.

Der Schlüssel für einen adäquaten Umgang mit zentralen Motiven liegt im Aufnahmegrund als deutsche (Spät-)Aussiedler. Erst die Einsicht darüber, dass die deutsche Herkunft nur in Kombination mit den Repressionserfahrungen zwischen zwei totalitären Regimen Aufnahmeberechtigung bedeutete, ermöglicht Anknüpfungspunkte zu heutigen Aufarbeitungsdiskursen.

Was für Kundige eine Selbstverständlichkeit darstellt, ist in der Breite sowohl unter den Russlanddeutschen als auch in der Gesamtbevölkerung eine kaum bekannte Kausalkette. 

Ausgerechnet eine Auseinandersetzung in den sozialen Medien hatte gegen Ende des vergangenen Jahres deutlich auf dieses Bedürfnis aufmerksam gemacht. In einem Tweet bediente sich der für seine Rassismuskritik bekannte Journalist Hasnain Kazim der abgedroschenen Unterstellung gegenüber Aussiedlern, für Russlanddeutsche genüge das Vorhandensein eines deutschen Schäferhundes in der Familie, um aufgenommen zu werden. Da der Urheber eine beachtliche Reichweite besitzt, entwickelten sich die Gegenreaktionen zu einer dynamischen Debatte. Unter dem Eindruck postmigrantischer Diskurse und insbesondere der aktuellen „Black Lives Matter“- Debatte führte eine bemerkenswert kompetente Online-Community vor, wie aktuell das Bedürfnis nach Aufklärung über die Zuwanderungshintergründe der Russlanddeutschen ist.

Lebendige Erinnerungskultur enorm wichtig

Eine vitale und funktionierende Erinnerungskultur ist für die individuelle Selbstverortung in der Gesellschaft enorm wichtig. Die Wertschätzung von Erinnerungen und deren Wahrnehmung auf Augenhöhe verleiht Würde und wirkt für den Träger sinnstiftend. In der zweiten Folge des Podcasts Steppenkinder mit dem Titel „Wie Erinnern uns Würde verleiht“ stellt Kornelius Ens, Leiter des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte fest, dass das Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft sich enorm entspannen kann, „wenn wir die Erinnerungskultur selbstverständlicher kommunizieren könnten“.

Das hieße: Aufklärung im Sinne von Geschichtsvermittlung und moderne Formate im kulturellen Bereich. Damit wir nach vorne schauen können, brauchen die unterschiedlichen Erklärungsansätze Berührungspunkte mit der Allgemeinheit. Und für den Einzelnen geht es darum, sich zu verstehen, um sich in einer Gesellschaft, die dessen individuelle Geschichte nicht erzählt, kompetent navigieren zu können. 

Und so könnte aus dem Zustand, zwischen den Stühlen zu sitzen, ein selbstbewusstes Platznehmen in den öffentlichen Debatten über gestern, heute und morgen werden.

Edwin Warkentin

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