Die Wolgarepublik: Was war sie wert?

Es war einmal ein Stück Land an der Wolga, das noch heute die Köpfe und Herzen vieler Menschen umtreibt. Dort hatten sich im 18. Jahrhundert deutsche Siedler niedergelassen. Die junge Sowjetmacht gewährte deren Nachfahren 1918 eine Autonomie, die jedoch schon 1941 kassiert wurde, nachdem die Wolgadeutschen kollektiv hinter den Ural deportiert worden waren. Was das kurze Kapitel der Autonomie letztlich für sie bedeutete, darüber schreibt der Historiker Viktor Krieger von der Universität Heidelberg, Autor eines kürzlich erschienenen Buches zum Thema, in der MDZ.

Zeugnisse einer wechselvollen Geschichte in der Kleinstadt Marx, die in der Wolgarepublik zu den größeren Orten gehörte: Die zu Sowjetzeiten geschlossene und geköpfte Lutherische Kirche ist inzwischen restauriert und wieder geöffnet, aber auch das Denkmal für Lenin, in dessen Arbeiter- und Bauernstaat der Glauben verfolgt wurde, steht vis-á-vis wie eh und je. © Tino Künzel

Dass die Autonome Republik der Wolgadeutschen nach wie vor Kontroversen auslöst, ist nicht verwunderlich. Zum einen sind die „Bürger deutscher Nationalität“ die einzige nationale Gruppe in Russland, denen eine substanzielle Rehabilitierung in Form der Wiederherstellung ihrer territorialen Autonomie verwehrt geblieben ist. Zum anderen lebt die überwiegende Mehrheit der einstigen Einwohner der Republik beziehungsweise ihrer Nachkommen in Deutschland; dort wird die Zahl der Bundesbürger mit einem wolgadeutschen Hintergrund zurzeit auf ca. eine Million geschätzt.

Bewertungen gehen weit auseinander

Die gegenwärtige gesellschaftliche Randstellung einer „territoriums- und autonomielosen“ Minori­tät sorgt sowohl in Russland als auch bisweilen in Deutschland für nostalgische Erinnerungen und eine Verklärung der nationalen Republik. Auf der anderen Seite spielen viele Historiker die praktische Bedeutung einer territorialen Autonomie im Stalinismus herunter und sprechen sogar von einem „Mythos Wolgarepublik“, weil die Eigenständigkeit eine Fiktion war und sie somit den Bewohnern kaum etwas gebracht habe. Welchen realen Wert stellte für die betroffene Nationalität die Autonomie sowjetischer Prägung in der politischen Wirklichkeit dar?

Selbstverständlich konnte von einer nationalen Selbstbestimmung und Selbstverwaltung in einem sozialistischen Einparteienstaat keine Rede sein. In der stalinistischen Mobilisierungsdiktatur verkamen die verfassungsmäßigen Organe der „Volksherrschaft“ zu reiner Dekoration. Die Rolle der örtlichen Partei- und Wirtschaftsleitung beschränkte sich auf das bedingungslose Erfüllen der von der Parteispitze oder Zentralregierung erteilten Direktiven. Dies galt für die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) der Wolga­deutschen genauso wie für alle damaligen autonomen Gebilde und Unionsrepubliken.


Neue Erkenntnisse über ein altes Thema

„Rotes deutsches Wolgaland“ von Viktor Krieger ist eine populärwissenschaftliche Abhandlung, die sich als erste Publikation im deutschsprachigen Raum in dieser Ausführlichkeit mit der Geschichte der Wolgadeutschen zu Sowjetzeiten beschäftigt und sich dafür auch neuester Forschungsergebnisse und wenig bekannter Dokumente bedient. Der Buchtitel greift ein Gedicht des kommunistischen Dichters Erich Weinert auf, das 1936 geschrieben wurde.

https://bibliothek.rusdeutsch.ru/catalog/5305


Entscheidend an der Autonomie sowjetischen Typs war der Umstand, dass sie für die namensgebende Titularnationalität die Voraussetzungen für eine gleichberechtigte Teilhabe an der höheren Bildung, an der wirtschaftlichen und soziokulturellen Entwicklung und an der politischen Partizipation in der UdSSR schuf. Deshalb kämpften etwa die ebenfalls deportierten Tschetschenen, Kalmücken, Krimtataren und andere, die ähnlich wie die Wolgadeutschen im Krieg ihre Autonomien verloren, für deren Wiederherstellung und für das Recht auf Rückkehr. Das war höchst rational, denn während dem Sowjetbürger nur ganz bescheidene Rechte zustanden, garantierte erst ein autonomes Gebilde den Mitgliedern der Titularnationalität zumindest deren Inanspruchnahme und ermöglichte den gesicherten Zugang zu begrenzten staatlichen Ressourcen.

Das sieht man etwa an der Dynamik der Sprachkompetenz und des Bildungsniveaus verschiedener Völker, die ihre Autonomie einbüßten, später aber wiedererlangten (nach 1957 die Balkaren, Karatschajer und Kalmücken), die ihr nationales Territorium immer hatten (Chakassen) oder aber im Falle der Deutschen seit 1941 ein „autonomieloses“ Volk sind (Tabelle).

Konkrete Vorteile für die Einwohner

Bei aller Gleichschaltung und Unterordnung in rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Fragen gegenüber den zentralen Stellen von Partei und Staat darf die Bedeutung einer national-territorialen Autonomie im Sowjetstaat für die betreffende Nationalität nicht unterschätzt werden. Das Deutsche etwa fungierte in der ASSR der Wolgadeutschen seit 1924 neben dem Russischen als Amtssprache. Es existierten deutschsprachige Schulen, höhere Bildungsanstalten und Massenmedien. Das Deutsche Staatstheater, das Zentralmuseum, die Zentralbibliothek der Republik und andere nationalkulturelle Einrichtungen wurden gegründet. Nicht zuletzt wurde der Nationalkader durch vielfältige Bildungsangebote und die Ernennung in Führungs­positionen aktiv gefördert.

Sprache und Bildung mit und ohne Autonomie

Nationalitäten Grad der Beherrschung der Muttersprache (des Nationalidioms) Zahl der Akademiker auf
1000 Personen über 15 Jahren
1939 1989 2010 1939 1989 2010
Balkaren 98,9 93,7 97,7 1,3 111 280
Karatschajer 99,4 96,8 97,3 1,2 110 285
Kalmücken 97,9 89,6 89,9 1,9 116 280
Chakassen 87,1 76,1 65,4 0,6 99 178
Deutsche 88,4 48,7 10,8 5,2 57 163
Landesdurchschnitt 6,4 113,0 243

Genauso wichtig wie die Garantie der national-kulturellen Entwicklung war für die betreffende Nationalität eine ständige Präsenz der territorialen Autonomie, in unserem Fall der Wolgadeutschen Republik, in zentralen russischsprachigen Massenmedien, in Lexika verschiedener Art, in wissenschaftlichen und populären Darstellungen. Das sendete dem Partei- und Staatsapparat sowie der gesamten Sowjetbevölkerung eine klare Botschaft: Die Deutschen sind anderen Nationalitäten gleichberechtigt.

Wenn man die Lage der Deutschen in der Ukraine in den 1930er Jahren mit der der Wolgadeutschen in ihrer Republik vergleicht, so fallen einem gravierende Unterschiede auf: Bei gleicher Größe durften etwa die Wolgadeutschen neun Abgeordnete in den Obersten Sowjet der UdSSR wählen, die Ukrainedeutschen keinen einzigen. Bei Letzteren wurden zwischen 1937 und 1939 alle nationalen Rayons aufgelöst, der muttersprachliche Unterricht und die Amtssprache ukrainisiert beziehungsweise russifiziert, alle nationalen kulturellen Einrichtungen aufgelöst oder umprofiliert.

Verglichen mit anderen Ethnien in der RSFSR, waren die Deutschen auch in ihrer Republik überdurchschnittlich oft von Verfolgung etwa während des Großen Terrors der Jahre 1937/38 betroffen. Allerdings war ihr Anteil unter den Verfolgten deutlich geringer als derjenige der Deutschen in der Ukraine oder in anderen Regionen, da die Wolgadeutschen in ihrer Republik offiziell zu den Titularnationen der Sowjetunion mit eigener territorialer Autonomie und erweiterten Gruppenrechten gehörten.

Autonomie auch von unten gewollt

Schließlich entsprach die Gründung der territorialen Autonomie auch dem erklärten Wunsch der wolgadeutschen Bevölkerung – davon zeugen die nationale Bewegung 1917/18, Kongresse der Ortsabgeordneten der Wolga-Siedler und ihre Forderungen nach Selbstverwaltung und Bewahrung der Sprache und Kultur. Man denke an die Delegationen, die im April 1918 nach Moskau gesandt wurden, mit Forderungen nach einem nationalen Zusammenschluss gemäß der „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ vom 2. November  1917. Es war nicht die Schuld der Wolga­deutschen, dass die Autonomie letztendlich nur auf sozialistisch-proletarischer Grundlage unter Führung der bolschewistischen Partei entstehen konnte.

Zum Schluss noch der Satz eines Zeitzeugen, der die ganze Problematik trefflich auf den Punkt brachte: Wenn man schon im Sozialismus zu leben verdammt ist, dann doch besser als sowjetischer Professor und nicht als sowjetischer Schweinehirt.

Republik der fremden Werte: Ein kritischer Blick auf die deutsche Wolgaautonomie

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