Wolgadorf Nischnjaja Dobrinka: Mit den Deutschen und ohne sie

Kein Ort in Russland hat eine längere deutsche Vergangenheit als Nischnjaja Dobrinka. Das Dorf in der Region Wolgograd war 1764 die erste wolgadeutsche Kolonie überhaupt. Doch die Zeiten, als hier Deutsch gesprochen wurde, sind lange her. In unserer Reihe „Ortstermin“ hat die MDZ Ljubow Kapustina, die Leiterin des Museums für die Traditionen und das Alltagsleben in den deutschen Siedlungen an der Wolga, gefragt: Wie erging es Nischnjaja Dobrinka mit den Deutschen und wie geht es dem Ort heute ohne sie?

Vorzugslage: Nischnjaja Dobrinka schmiegt sich an eine Bucht an der Wolga. (Foto: Tino Künzel)

Der erste Tag in der Geschichte von Nischnjaja Dobrinka scheint bestens dokumentiert zu sein. Sie haben uns Archivangaben vorgelegt, aus denen ersichtlich ist, wer die deutschen Siedler waren, die am 29. Juni 1764 dort eintrafen: ihre Namen, ihr Alter, ihre Herkunft und was ihnen die Wojewodenkanzlei in Saratow an Geld, Tieren und Werkzeug als Startkapital zur Verfügung stellte. Welches Bild bot sich den 15 Familien, als sie nach ihrer Fahrt über die Wolga hier an Land gingen?

Für sie waren Wohnhäuser errichtet worden. Nach den Dokumenten hatten 72 russische Zimmermänner daran mitgewirkt. Was sie noch sahen, waren die Anhöhen ringsum. Und die Wolga war damals viel schmaler als heute. Deshalb lag auch das Ufer weiter draußen.

Wie haben sich die Neuankömmlinge eingelebt?

Ich nehme an, dass ihnen unser ausgeprägt kontinentales Klima stark zu schaffen gemacht hat. Sie waren ja viel mildere Bedingungen gewohnt, bevor sie sich vom Vater Rhein zum Mütterchen Wolga aufgemacht haben. Das dürfte eine ziemliche Umstellung gewesen sein. Und dann ist der Steppenboden hier alles andere als einfach, um darauf etwas anzubauen. Es hat nicht nur zehn oder zwanzig Jahre gebraucht, bis fruchtbare Gärten entstanden, bis dieser Landstrich buchstäblich aufblühte. Man weiß, dass unser Dorf vor der Deportation der Wolgadeutschen im Jahr 1941 regelrecht im Flieder ertrank.

Was war aus Ihrer Sicht die Blütezeit der Kolonie?

Wenn man die Zahl der Produk­tionsbetriebe zu Grunde legt, dann das Ende des 19. Jahrhunderts, als es davon mindestens 18 gab.

1941 hat man die deutsche Bevölkerung auf Anordnung der sowjetischen Behörden zwangsumgesiedelt. Wurde Nischnjaja Dobrinka damit komplett geräumt?

Nein. Von den damals ungefähr 5000 Einwohnern waren ja nicht alle Deutsche. Und wenn das Familien­oberhaupt ein Russe war, dann durfte man bleiben.

Aber die meisten Häuser standen nun leer.

Ja. Und die Vorratskeller waren gut gefüllt. Die Deportierten hofften, dass sie bald wieder zu Hause sein würden. Es heißt, in einem der Häuser habe ein Zettel auf dem Tisch gelegen, mit einer Nachricht an die Nachbewohner. In krakeligen russischen Buchstaben habe ein Deutscher ihnen geschrieben, sie könnten alles benutzen. Nur sollten sie bitte nichts kaputtmachen.

Was waren das für Leute, die dann hier eingezogen sind?

Kriegsevakuierte aus der Ukraine, aus den Regionen Orjol und Leningrad. Im Museum liegt ein Brief von einer Frau aus der Ukraine, geschrieben in den 80er oder 90er Jahren. Sie war 12, als sie mit ihrer Familie nach Nischnjaja Dobrinka kam. Rührend erzählt sie von ihren Kindheitserinnerungen und dass sie nun schon Rentnerin sei, aber gern noch einmal den Ort wiedersehen würde, der sie vor dem Hunger gerettet hat. Wenn sie auf den Balkon gehe, sehe sie den Dnepr und denke an die Wolga, schreibt sie.


Die über 100 deutschen Kolonien an der Wolga waren auf die benachbarten Regionen Saratow und Wolgograd verteilt. Im Wolgograder Gebiet, nordöstlich der heutigen Großstadt Kamyschin, entstanden die ersten Siedlungen überhaupt. Zwischen 1764 und 1767 wurden hier acht Kolonien mit deutschen Namen wie Moninger, Dreispitz, Holstein oder Mühlberg gegründet. In Nischnjaja Dobrinka, so der russische Name von Moninger, wo im Sommer 1764 ein Boot mit den allerersten Wolgadeutschen anlegte, sind noch einige wenige Zeugnisse der faszinierenden Geschichte erhalten. Doch gleich zweimal – 1941 und in den 1990er Jahren – verlor die Gemeinde nahezu ihre gesamte deutsche Bevölkerung. Heute sind von 1000 Einwohnern nur noch um die 40 deutschstämmig.

Immerhin: Sieben der ehemaligen Kolonien existieren auch weiterhin. Allerdings erinnert dort nur noch wenig an ihre Ursprünge. Dafür sind Flora und Fauna überaus reizvoll. Die kleinen Orte befinden sich alle auf dem Gelände des 350 Quadrat­kilometer großen Schtscherbakowski-Naturparks.

Das Besucherzentrum des Naturparks im Dorf Werchnjaja Dobrinka (Foto: Tino Künzel)

Erst ab 1956 durften die Wolgadeutschen heimkehren, ohne allerdings ihre früheren Häuser beanspruchen zu können. Wie groß war ihr Anteil an der Dorfbevölkerung in den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion?

Mehr als die Hälfte, würde ich sagen, ohne mich da festlegen zu wollen. Als ich 1992 mit meinem Mann hierhergezogen bin, sprachen viele Ältere noch Deutsch miteinander und Russisch mit starkem Akzent.

In den 1990er Jahren wanderten die allermeisten Deutschen als Spätaussiedler nach Deutschland aus. Wie haben Sie das erlebt?

Wir waren jung und hatten unser eigenes Leben, unsere eigene Familie. Ich habe mir damals nicht mal groß Gedanken gemacht, dass ich ja selbst deutscher Abstammung bin. Nach dem Pädagogikstudium gab uns der Sowchos in Ternowka, nicht weit von hier, eine Wohnung. Woran ich mich gut erinnere, ist die wahre Völkerwanderung, die dann einsetzte. Deutsche aus Zentralasien quartierten sich in Ternowka ein, bevor sie weiter nach Deutschland zogen. Unsere Gegend hier wurde zu einer Art Umschlagplatz.

Was denken Sie heute über den damaligen Exodus?

Die Leute haben sich auf die Suche nach einem besseren Leben begeben, so wie einst ihre Vorväter, als sie dem Ruf aus Russland folgten. Das kann ihnen niemand verübeln. In Nischnjaja Dobrinka hat das gesamte Dorf von ihnen Abschied genommen, da sind viele Tränen geflossen. In der ersten Zeit kamen sie dann mit ihren neuen Autos noch oft zu Besuch. Inzwischen fahren sie wahrscheinlich nach Italien oder Spanien.

Nah am Wasser gebaut: die einstmals deutsche Kolonie Nischnjaja Dobrinka (Foto: Tino Künzel)

Wie hat sich diese Massenabwanderung auf das Dorfleben ausgewirkt?

Es war der Wechsel der Gesellschaftsordnung, der unser aller Leben hier wirklich kardinal verändert hat. Der Untergang des einen Landes, in dem alles seinen geregelten Gang ging. Abgelöst von Chaos und Zerfall der 1990er Jahre. Das war es schließlich auch, weshalb viele das Weite gesucht haben. Das betraf ja längst nicht nur die Deutschen.

Also hat der Wegzug fast aller Deutschen keine tiefgreifenden Folgen für Nischnjaja Dobrinka gehabt?

Aus meiner Sicht nicht. Wissen Sie, das Dorf verkraftet es, wenn ein Mensch oder sogar eine große Gruppe es verlässt. Aber verkraften es Menschen, das Dorf zu verlassen, mit dem sie so sehr verwurzelt sind?

Wie hat sich Ihr Ort seitdem entwickelt?

Ich bin so eingestellt, dass ich immer das Positive sehen möchte. Die Hauptsache ist, nicht zu jammern. Und bei sich anzufangen. Generell sind gerade in den letzten Jahren Veränderungen zum Besseren festzustellen. Unsere Schule hat eine neue Sporthalle bekommen, die Ortsmitte einen Park. Und weil die einstige Landschule nun nicht mehr als Turnhalle dienen muss, stehen ihre Räumlichkeiten für Bibliothek und Klub zur Verfügung. Nicht zu vergessen unser Museum, 2021 eröffnet. Das ist natürlich ganz, ganz positiv.

Das Interview führte Tino Künzel.

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: