Ich wurde in Taschkent geboren, der Hauptstadt von Usbekistan. Dort habe ich auch meine Kindheit und Jugend verbracht. Das liegt daran, dass meine Vorfahren väterlicherseits als Wolgadeutsche 1941 nach Zentralasien deportiert wurden. Mein Großvater und mein Vater kamen schon in Samarkand zur Welt.
Mein Urgroßvater war Jahrgang 1907. Schon bevor man ihn aus seiner Heimat in der heutigen Region Saratow verschleppte, wurde er im Zuge der Verfolgung von „Kulaken“ enteignet. Aber gebrochen hat man ihn nicht. Für mich ist er bis heute ein Muster an Standhaftigkeit. Wenn ich in meinem Leben mit Schwierigkeiten zu kämpfen habe, dann denke ich oft an ihn. Und nicht nur an ihn, sondern überhaupt an die Russlanddeutschen, die solche Schicksalsschläge überwinden mussten.
Einmal habe ich meine Eltern gefragt, ob in unserer Familie eigentlich zu irgendeiner Zeit versucht worden sei, den Eintrag zur Nationalität im sowjetischen Pass zu ändern. Das wäre ja irgendwie nachvollziehbar gewesen nach all dem, was man den Deutschen angetan hatte. Aber die Antwort war ein kategorisches Nein. Wir haben wegen unserer Nationalität gelitten und das hat sie noch wertvoller für uns gemacht. Wie könnten wir sie da aufgeben und damit auch noch unsere Ahnen verraten? Niemals.
Vor der ethnografischen Expedition war ich nie im einstigen Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen gewesen und nun umso gespannter, was mich dort erwartet. Ich habe mir extra vorher keine aktuellen Fotos der Gegend angeschaut, wollte völlig unvoreingenommen sein. Was ich zu sehen erhofft hatte, waren nicht gleich prosperierende, aber doch funktionierende Ortschaften – und dass das historische Erbe in Ehren gehalten wird. Vorgefunden haben wir vor allem eine Menge Verfall.
Man trifft zum Beispiel noch viele alte Häuser an, doch ganz überwiegend sind sie in einem schlechten Zustand. Man denkt sich zunächst: Gut, das war jetzt ein heruntergekommenes Haus, das wollen wir nicht verallgemeinern. Aber dann fährt man in das nächste und übernächste Dorf und merkt, dass es dort auch nicht anders aussieht.
Wir sind auch auf die Überreste einiger Kirchen der Wolgadeutschen gestoßen, teils überraschend groß und wunderschön. Aber alle waren sie zerstört. In einer dieser Ruinen grasten Ziegen.
Ich würde sagen, dass in 70 Prozent der von uns besuchten ehemaligen wolgadeutschen Kolonien praktisch keine Infrastruktur vorhanden war, die einen richtigen Ort ausmacht. Wenn es einen Dorfladen gab, war das schon viel. Die Bewohner leben im Wesentlichen von dem, was sie selbst anbauen. Manche Orte gleichen Friedhöfen. In einem gab es nur noch zwei Familien.
Aber natürlich ist das Bild nicht nur schwarz-weiß. Wir sind auch vielen Leuten begegnet, die sich kümmern und denen ich für ihr großes Engagement sehr dankbar bin. Man merkt, wie viel von Einzelnen abhängt und mit ihnen steht und fällt. Ljubow Kapustina ist so ein Beispiel, die Leiterin des Museums in Nischnjaja Dobrinka, das von allen Orten den mit Abstand intaktesten Eindruck auf mich gemacht hat.
Generell muss man auch in Rechnung stellen, dass die Urbanisierung eben ihre Folgen auf dem Land hinterlässt. Dafür kann niemand etwas. Die deutschen Siedler haben einst eine kolossale Leistung vollbracht, indem sie diese Gegend urbar gemacht haben. Dafür gebührt ihnen Hochachtung. Dieses Wunder hat nach 1941, als man sie fortgeschafft hat, keine Fortsetzung erlebt. Und von den Spuren der Vergangenheit ist kaum etwas übrig.
Als ich nach Moskau zurückgeflogen bin, war ich völlig ausgebrannt. Ich habe mich dann in alle möglichen Aktivitäten gestürzt, als wollte ich mir beweisen: Nein, nein, die Zeit ist nicht stehen geblieben und das Leben geht weiter. Bevor sich Ihre Zeitung bei mir gemeldet hat, war ich eher bemüht, das Gesehene möglichst zu vergessen. Es war eine traurige Reise, wie ich sie kein zweites Mal erleben möchte. Zumal das auch eine sehr persönliche Tragödie für mich ist.
Aufgeschrieben von Tino Künzel