„Am liebsten die Erde küssen“

Robert Galliardt und Natalia Otscheretjanaja (Lundgren) gehören zu den letzten verbliebenen Deutschen im Dorf Werchnjaja Dobrinka in der Region Wolgograd. Wie das kam? Die MDZ hat ihnen zugehört.

Fußgänger prägen das Straßenbild in Werchnjaja Dobrinka (Foto: Tino Künzel)

R.G. (im Hof seines Wohnhauses in Werchnjaja Dobrinka): Meine Eltern stammen beide von hier. 1941 hat man sie zusammen mit meinen vier älteren Geschwistern nach Sibirien deportiert, erst nach Tjumen, dann nach Salechard am Polarkreis. Dort bin ich 1947 zur Welt gekommen. 1965 ging es zurück. Als wir im Juli hier aus dem Norden eingetroffen sind, hatte ich zwei Paar Hosen, ein warmes Hemd und eine Jacke an. Da habe ich mich erst mal umgezogen und bin wie eine weiße Wand durchs Dorf gelaufen.

N.O.: Mein Vater Leopold Lundgren, ein Deutscher mit schwedischen Wurzeln, wurde 1939 hier geboren. Auch er kam mit seinen Eltern 1941 in die Region Tjumen. Sie kehrten allerdings schon 1956 zurück, als das wieder möglich war.

R.G.: Nur durfte man nicht wieder in seine alten Häuser. Wenn man mich gefragt hat, ob wir sie uns schon zurückgeholt haben, dann habe ich gesagt: Wir sind froh, dass man uns überhaupt wieder hergelassen hat. Wir beißen uns doch bis heute auf die Zunge. Ich war 16, als ich mit meinem Vater in einem Laden in Salechard Deutsch gesprochen habe und plötzlich merkte, wie schief man dafür angeschaut wurde.

N.O.: Hier war das kein Problem. Deutsch konnte man überall hören. Und wenn es jemandem einfiel, meinen Vater einen Faschisten zu nennen, dann hat er schnell die Fäuste geballt. Dafür war er viel zu stolz. Nur meine Großmutter konnte ihn in solchen Situationen bremsen.

Später, als ich 1969 in die Schule gekommen bin, hatte von den 25 Kindern in meiner Klasse kaum eine Handvoll russische Familiennamen. Die anderen hießen Kaufmann, Schneider, Weigand und so weiter. Aber eine große Rolle gespielt hat das nicht, welcher Nationalität du warst. Diese Grenzen hatten sich irgendwann verwischt.

Man sieht es nicht auf den ersten Blick, aber dieser Bau in der Mitte von Werchnjaja Dobrinka war einmal die Dorfkirche. Zu sowjetischer Zeit wurde ein Kulturhaus daraus. Das ist es auch heute. (Foto: Tino Künzel)

R.G.: Mir hat es hier auf dem Lande anfangs überhaupt nicht gefallen. Aber nach dem Wehrdienst wollte ich dann nicht mehr weg. Wir hatten eine Zweigstelle des Butter- und Käsekombinats Kamyschin hier und unseren eigenen Backwarenbetrieb. Dem Sowchos ging es richtig gut. Er konnte sich in der Spitze 15 schwere Kirowez-Traktoren leisten. 2006 ist er eingegangen. Arbeit gibt es so gut wie keine mehr. Die Männer fahren in den Norden oder nach Moskau, um Geld zu verdienen, und sind dann von ihren Familien getrennt. Da kann ich meine Tochter und meinen Sohn verstehen, die beide seit den 1990er Jahren in Deutschland leben. Dort haben sie solche Kopfstände nicht nötig.

N.O.: Seien wir ehrlich 99 Prozent der Deutschen sind weggezogen. Vor zehn Jahren hätte man vielleicht auch mich noch überreden können. Aber heute? Ich habe mein Dobrinka immer geliebt. Und wenn ich mal eine Woche weg war, dann würde ich am liebsten die Erde küssen, wenn ich wieder zu Hause bin.

R.G.: Wir könnten morgen ausreisen. Die Kinder würden sich freuen, Platz ist auch genug da. Ich war bisher fünf Mal in Deutschland zu Besuch. Die Jungen fühlen sich dort wohl. Mein sechsjähriger Enkel wächst zweisprachig auf. Aber für mich war das irgendwie nichts. In meinem Alter wollte ich nicht noch mal von vorn anfangen. Hier haben wir unser Haus, einen Garten und machen vieles selbst, von Sauerrahm bis zur Butter. Unsere Kuh kommt tagsüber zu einem Hirten auf die Weide, davor und danach wird sie von mir gefüttert. Dafür stehe ich morgens um halb fünf auf.

N.O.: Früher haben die Leute noch viel mehr Vieh gehalten. Da gab es nicht nur eine Kuhherde, die auf die Weide getrieben wurde, sondern gleich zwei.

R.G.: Wir und die Kinder haben eine Abmachung. Wenn einer von uns beiden (nickt in Richtung seiner Frau Emma) stirbt, holen sie den anderen zu sich nach Deutschland. Ich sage dir, wie man mich von hier fortkriegt. Man muss mir die Augen verbinden, mich ins Flugzeug setzen und erst nach der Ankunft die Binde abnehmen. Nach zwei Tagen bin ich dann so weit, auf den Friedhof geschafft zu werden.

N.O.: Alles wird gut. Ich bin Optimistin, egal was auch passiert.

Aufgeschrieben von Tino Künzel

„Hoffnung“ und was daraus wurde

Dreistöckige Einfamilienhäuser sind ein eher seltenes Bild auf dem russischen Land. Dass sie Mitte der 1990er Jahre reihenweise in mehreren Orten der Region Wolgograd auftauchten, ist ein Stück Zeitgeschichte. Der Zustrom von Russlanddeutschen nach Deutschland hatte damals solche Ausmaße erreicht, dass die Bundesregierung ihn an der Quelle einzudämmen versuchte. Die Lebensbedingungen in den deutsch besiedelten Gebieten sollten möglichst so weit verbessert werden, dass sich weniger Menschen veranlasst sahen, Russland den Rücken zu kehren.

Ein Programm namens „Hoffnung“ wollte den Wohnungsbau durch Kredite für lokale Bauunternehmen fördern. So entstanden auch in der ehemaligen deutschen Wolgasiedlung Galka – nur wenige Kilometer von Werchnjaja Dobrinka entfernt – Einfamilienhäuser, die sich ein wenig ausnehmen wie Filmkulissen. Sie bilden einen auffallenden Kontrast zur traditionellen Dorfarchitektur. Für russlanddeutsche Familien sollten sie ein Grund zum Bleiben sein. Straßen wurden asphaltiert, Arbeitsplätze geschaffen. Ein Landwirtschaftsbetrieb und ein Kulturzentrum waren geplant. Aber das Meiste blieb unvollendet.

Auch die Häuser machen einen seltsam halbfertigen Eindruck, auch wenn man bis heute mit Respekt von ihnen spricht. Junge Familien wanderten nach einer Weile trotzdem ab. Und wer blieb, fand die Häuser oft zu groß und unpraktisch. Galka hat inzwischen wieder so viele Einwohner wie bei der Dorfgründung durch Deutsche 1764: unter 200.

Tino Künzel

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