Wo Kreativität und Ideenreichtum zu Hause sind

Moskaus Stadtrand gilt für viele Menschen als grau und öde. Eine Ausstellungsserie beweist das Gegenteil und zeigt, dass es jenseits des Stadtzentrums viel zu entdecken gibt.

Sammelsurium des Lebens: die Ausstellung „Wo die Dinge wohnen“ im Museum für Industriekultur (Foto: Na rajone/Za predelami zentra)

Entspannt lehnt sich Simon Mraz zurück. Er freut sich auf die anstehenden Feiertage. Der Oktober war für den Leiter des Österreichischen Kulturforums in Moskau ein sehr intensiver Monat. In den zurückliegenden Wochen hat Mraz acht Ausstellungen eröffnet – alle im Rahmen seines neuen Projektes „Na rajone / Sa predelami zentra“ (Im Viertel / Außerhalb des Zentrums).

Moskau gilt als eine Stadt der Gegensätze. Während das Stadtzentrum in neuem Glanz erstrahlt und immer mehr Touristen anzieht, werden die Randgebiete als graue und gesichtslose Schlafstätten wahrgenommen. Mit dem Projekt „Im Viertel / Außerhalb des Zentrums“ will Mraz das ändern und zeigen, dass die Viertel jenseits der Innenstadt Orte voller Ideen und kulturellen Lebens sind.

Eine ausgeprägte Kiezkultur wie etwa in Wien oder Berlin findet man in Moskau nicht, dennoch gibt es in Stadtvierteln wie Ismailowo, Ljublino oder Sewernoe Tschertanowo vieles zu entdecken. Sich mit dem Stadtrand zu befassen sei ein Thema, was in der Luft liege, erklärt Mraz. Schließlich seien sie die Orte der Veränderung, in denen junge Menschen eine „Ästhetik des Stadtrands“ schaffen. Will man mehr über Moskau erfahren, müsse man am Stadtrand suchen, ist Mraz überzeugt.

Keine Kiezkultur, aber die Viertel haben ihre Identität

Einen weiteren Anstoß für das Projekt „Im Viertel / Außerhalb des Zentrums“ schufen zwei junge Moskauer Kuratorinnen, die eine Karte mit den Wohnorten der Künstler in der Stadt entwarfen.  Die Schlussfolgerung: Die Ateliers und damit die kreativen Hotspots befinden sich überwiegend in den Randbezirken der russischen Hauptstadt. Auch, weil dort zu Sowjetzeiten viele Künstlerhäuser errichtet wurden. 

Heute konzentriert sich die junge Moskauer Kunstszene rund um die ehemalige Fabrik NIIDAR im Nordosten der Stadt und die Metrostation Baumanskaja unweit der Innenstadt. Für Mraz war das dortige Zentrum für Kreativindustrien „Fabrika“ der ideale Ausgangspunkt für sein Projekt. In der zweiwöchigen Ausstellung „Alles an seinem Platz“ ließ der Kurator die ehemalige Papierfabrik mit dem Viertel interagieren.

Der Ort war Teil der Geschichte, die erzählt werden sollte, sagt Mraz. So verlegte die junge Künstlerin Anna Taganzewa-Kobsewa ihr Atelier in ein Shoppingzentrum und machte den ungewöhnlichen Arbeitsplatz zu einem Ort der Begegnung. Dima Grin veranstaltete eine Bepflanzungsaktion, an der sich die Bewohner des Viertels beteiligen konnten. 

Pflanzaktion am Zentrum für Kreativindustrien „Fabrika“ (Foto: Jewgenij Subtschenko)

Völlig anders war die Situation hingegen in Ljublino, einem Plattenbauviertel im Moskauer Südosten. Denn hier gab es keine Künstler, dafür aber mit dem „Museum für Industriekultur“ einen ungewöhnlichen Ort, der bei den Menschen im Viertel beliebt ist. Das Museum, ein penibel zusammengetragenes Sammelsurium von über einer Million Industrie- und Alltagsgegenständen, erwies sich ideal für die Ausstellung „Wo die Dinge wohnen“ – ein Wiener Fotoprojekt, das zeigt, was Menschen in Lagerräumen aufbewahren. 

Ende Oktober zeigte die Ausstellung „Einraumwohnung“, dass „Außerhalb des Zentrums“ auch außerhalb Moskaus bedeuten kann. Gut 30 Minuten braucht man mit dem Auto in den Vorort, in dem elf Tage lang Skulpturen die Schaufenster der Siedlung zierten. Es war der Versuch, die Menschen vor Ort mit moderner Kunst zu konfrontieren. Letztlich müsse man kein Spezialist sein, um sich für Kunst zu interessieren. Es sei eine Frage des Respekts, meint Mraz.   

Die Ausstellungen behandeln auch Randthemen

Etwas liegt dem Österreicher noch am Herzen. Er möchte, dass der Rand nicht ausschließlich als geografischer Begriff verstanden wird. Schließlich gebe es auch gesellschaftliche Randthemen wie häusliche Gewalt. Eine Problematik, die Mraz mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken möchte. Folgerichtig fand die Ausstellung „Polly wants a cracker“ von Michèle Pagel in seiner Wohnung im Stadtzentrum statt. 

Die Reaktionen auf die bisherigen Ausstellungen fielen unterschiedlich aus. Das liege auch an den unterschiedlichen Geschichten, die erzählt wurden, meint Mraz. Eine Begegnung blieb ihm aber im Gedächtnis. In Nowo-Molokowo, wo es kein klassisches Kunstpublikum gibt, stiegen plötzlich zwei „coole Typen“ aus einem tiefergelegten Lada, um nachzufragen, was denn vor sich gehe. Eine Szene wie aus den 1990ern, lacht Mraz. Umso erfreulicher, dass sich die beiden jungen Männer im Anschluss die Ausstellung noch anschauten. 

Mit einer Fotoausstellung zum sozialen Wohnungsbau in Wien endet der erste Teil des Projekts „Im Viertel/ Außerhalb des Zentrums“. Zu sehen ist die Ausstellung noch bis zum 30. November im Kulturzentrum SiL. Im nächsten Jahr möchte Mraz mit russischen Künstlern an diesen Ort zurückkehren. Denn der Arbeiterklub einer ehemaligen Automobilfabrik ist nicht nur ein Ort voller kreativer Menschen, die etwas bewegen wollen. Es ist auch ein Ort, der sich selbst und das umgebende Stadtviertel neu erfinden muss, nachdem das Werk vor einigen Jahren abgerissen wurde. 

Daniel Säwert

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