Was russische Schulkinder über die Deportation von Sowjetvölkern lernen

In neuen Geschichtslehrbüchern für die zehnten und elften Klassen wird die Deportation der Russlanddeutschen während des Zweiten Weltkriegs nicht einmal erwähnt, wohl aber die anderer Völker, darunter der Tsche­tschenen. Doch auch sie sind unzufrieden und pochen auf Änderungen im Text.

So sehen sie aus, die neuen Lehrbücher für die neuere russische und Weltgeschichte. (Foto: Olga Silantjewa)

Seit September werden die Schüler der oberen Klassen in russischer die Geschichte nach neuen Lehrbüchern unterrichtet. Sie kamen kurz vor Beginn des laufenden Schuljahres heraus und wurden gerade noch rechtzeitig an Schulen im ganzen Land ausgeliefert.

„Welle der Empörung“

Auch in Tschetschenien machte man sich mit dem neuen Lehrstoff bekannt – und reagierte scharf. Der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, sprach auf seinem Telegram-Kanal von einer „Welle der Empörung unter Vertretern der Völker, die in der Sowjetunion verfolgt wurden“.

Das Missfallen erregte ein Abschnitt im Geschichtslehrbuch für Zehntklässler. In „Die Front hinter der Front“ heißt es zu den ethnischen Deportationen: „Aufgrund von Fakten der Kollaboration von Karatschaiern, Kalmücken, Tschetschenen, Inguschen, Balkaren und Krimtataren mit den Okkupanten traf das Staatliche Verteidigungskomitee in den Jahren 1943–1944 die Entscheidung, die Staatsgebilde dieser Völker innerhalb der UdSSR zu liquidieren und sie kollektiv mit Zwangsumsiedlung (Deportation) in die östlichen Gebiete des Landes zu bestrafen. Im Ergebnis waren nicht nur Banditen und Kollaborateure des Feindes, sondern auch eine Vielzahl unschuldiger Menschen betroffen. Die Umsiedler mussten viel Leid und Entbehrungen ertragen. Gerechtigkeit widerfuhr ihnen erst nach 1953.“

Aus der damaligen Tschetschenisch-Inguschischen Autonomen Sowjetrepublik wurden während des Krieges nach unterschiedlichen Schätzungen 500.000 bis 600.000 Tschetschenen und Inguschen deportiert. Als offiziellen Grund nannte man angebliche Kollaboration und Bandentum. In Tschetschenien selbst wird heute gelehrt, dass es in den Bergen der Republik nicht mehr Banditen gab als in anderen Regionen des Landes. Und  dass auch das tschetschenische Volk seinen Beitrag zum Sieg im Krieg geleistet hat.

Die Verfasser der Lehrbücher, der ehemalige russische Kulturminister Wladimir Medinski und der Politologe Anatoli Torkunow, haben bereits angekündigt, eine Arbeitsgruppe zu gründen. Die strittigen Formulierungen sollen geändert werden.

Die Deportation der Russlanddeutschen und ihre Folgen

Vielleicht schließen sich auch Vertreter der Selbstorganisation der Russlanddeutschen diesem Prozess an. Und zwar deshalb, weil die Lehrbücher über die präventive Deportation von ungefähr 900.000  Deutschen in den Jahren 1941 und 1942 kein Wort verlieren. Ihren Vorgängern war das in den zurückliegenden Jahrzehnten zumindest eine Zeile wert. Ebenfalls unerwähnt bleibt in der jetzigen Fassung, dass von 1941 bis 1945 über 316.000 sowjetische Deutsche in die Arbeitskolonnen der Lager des Gulags abgestellt wurden.

Dafür ist zu den Folgen der Deportation der Russlanddeutschen im Lehrbuch der 11. Klasse zu lesen: „Erst 1972 wurden alle Einschränkungen für die sowjetischen Deutschen bei der Wahl des Wohnortes auf dem gesamten Staatsgebiet durch das Präsidium des Obersten Sowjets aufgehoben. Die Entscheidung jedoch, die deutsche Autonomie zu liquidieren, gefällt 1941 während des Krieges gegen Deutschland, ist nicht geändert worden. Das war ein offenkundiger Fehler.“

Alle deportierten Völker, denen in den Kriegsjahren ihre Staatlichkeit genommen wurde, bekamen sie nach 1953 zurück. Nur für die Deutschen galt das nicht, obwohl auch sie ihre Wolgarepublik zurückwollten und viel dafür taten.

„Bedauerlicher Zufall“

„Wir beschäftigen uns jetzt mit der Frage, in welcher Form wir die Information über die Russlanddeutschen einreichen. Wir werden aber auf jeden Fall unsere Vorschläge der Redaktionskommission zukommen lassen“, sagte der Präsident der Föderalen National-Kulturellen Autonomie der Russlanddeutschen, Konstantin Matis, der MDZ. „Für uns ist es sehr wichtig, dass erstmals in einem Geschichtslehrbuch eingeräumt wird, dass die Ablehnung der Wiederherstellung der Republik ein ,offenkundiger Fehler‘ war. Dabei ist es uns aber auch sehr wichtig, dass in den Lehrbüchern alle Etappen des Lebens unseres Volkes in Russland dargestellt werden“, so Matis weiter.

„Wir sind ein Vielvölkerstaat, das Wissen um bestimmte Momente der Geschichte bildet die Grundlage für die Kommunikation zwischen den Völkern. Werden wichtige Fakten verschwiegen, führt das zu Spekulationen und nicht zur Verständigung innerhalb des Landes, was ja eine der Prioritäten unserer Staatspolitik ist. Wir wollen daran glauben, dass das Verschweigen der Tragödie der Russlanddeutschen ein bedauerlicher Zufall ist, der baldmöglichst richtiggestellt wird.“

Olga Silantjewa

Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns die Nachricht, dass der strittige Abschnitt so umformuliert wird: „12 Völker wurden zwangsumgesiedelt. Gerechtigkeit widerfuhr ihnen schrittweise  in den Jahren 1957–2014.“ Die geänderte Fassung wird zum kommenden Schuljahr in das Lehrbuch aufgenommen.

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