Deutsche Schule setzt ein Lesezeichen

Bücher zu lesen, ist angeblich ein vom Aussterben bedrohtes Gut. Dasselbe gilt für Deutsch und Russisch als Fremdsprachen im jeweils anderen Land. Beides wird an der Deutschen Schule Moskau intensiv gepflegt. Zum achten Mal schon fand dort jetzt der Vorlesewettbewerb statt, zum ersten Mal auch auf Russisch. Die Resonanz war umwerfend.

Wenn sich eine Kindergruppe mit fremdsprachigen Lieblingsbüchern, Lehrern und stolzen Eltern in einer Moskauer Aula einfindet, dann muss Vorlesewettbewerb in der Deutschen Schule (DSM) im Südwesten der Stadt sein. Novum der achten Auflage: Passend zum Deutsch-Russischen Jahr des Jugendaustauschs fand er bilingual deutsch-russisch statt. An einem Samstagvormittag Mitte November versammelten sich 20 „Bücherwürmer“ zum Lesewettstreit.

Das laute Vorlesen vor Publikum sei „die beste Methode, um Ängste vor der Fremdsprache abzubauen“, sagt die Leiterin des DSM-Ressourcenzentrums, Violeta Schauff, zur Begrüßung. Und Jan Kantorczyk, Leiter des Kulturreferats der Deutschen Botschaft in Moskau, hat sogar eines seiner Lieblingsbücher aus Jugendzeiten mitgebracht. In seinem Grußwort liest er aus „Das Sannikow-Land“ vor, einem Abenteuerroman, der im eisigen Norden Sibiriens spielt.

Vorlesewettbewerb

Ein „Lesesaal“ an der Deutschen Schule Moskau. / Peggy Lohse

Zum deutschsprachigen Wettbewerbsteil ist ein Dutzend fortgeschrittener Deutschlerner aus sechsten und siebten Klassen von elf Moskauer Schulen angereist. Der Ablauf ist Routine, da schon seit Jahren Tradition: Die Vorrunde findet in zwei Gruppen statt, Teilnehmer und Jury teilen sich auf. Jeder Leser liest etwa fünf Minuten aus einem selbstgewählten Buch vor. Hoch im Kurs stehen Erich Kästners „Doppeltes Lottchen” und „Emil und die Detektive”, denn die gehören zur Deutsch-Schullektüre. Es wird aber auch Klassisches verlesen, zum Beispiel „Der gestiefelte Kater” der Brüder Grimm. Mancher entscheidet sich lieber für zeitgenössische Kurzgeschichten aus Kinder- und Jugendzeitschriften.

Bewertet werden die Darbietungen von einer Jury, bestehend unter anderem aus Ludmila Sokolowa, Beauftragte für Bildungskoopera­tion Deutsch am Moskauer Goethe-Institut, Birgit Arndt, Fachberaterin und Koordinatorin der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen in Moskau, sowie zwei Vorlese-„Veteranen“ vom Vorjahr. Beurteilt werden Richtigkeit in Grammatik und Aussprache, Flüssigkeit und Ausdruck.

Wer die Vorrunde übersteht, kommt als einer von sechs Kandidaten ins Finale, wo dann ein unbekannter Text gelesen werden muss: In diesem Jahr ist das „Die Vorstadtkrokodile” von Max von der Grün, eine Jugend-Story über eine Kinder-Bande, ihre Aufnahme-Mutproben und echte Abenteuer. Das Buch dürfen die Vorleser am Ende behalten, die drei ersten Plätze werden mit zusätzlichem Lesestoff und kleinen Preisen belohnt. Aber dies, so sehen es Organisatoren vom Ressourcenzentrum und der ZfA wie auch Kinder und Eltern, ist nur die Zugabe. Den Hauptgewinn teilen sich alle, denn der liegt im Lesen selbst.

Vorlesewettbewerb

Das Finale des Russischlesewettbewerbs. / Peggy Lohse

Im kleineren russischsprachigen Teil dürfen sechs Russisch-Anfänger aus den vierten und fünften Klassen der Deutschen Schule vortragen. „Bring mir das Spielen bei, ich will auch Musiker werden”, hüpft eine hohe Jungenstimme über die Erzählung „Nesnajka” („Nimmerklug im Knirpsenland“) von Nikolaj Nossow. Und in angedeutetem Bass dazu: „Na dann lern’! Worauf möchtest du denn spielen?” Der achtjährige Zarakia Mousli überzeugt das Publikum mit Ausdrucksstärke.

Die russische Lesestunde war als „Pilotprojekt“ gedacht, um zu sehen, wie so etwas ankommt. Am Ende hat es sogar eine kleine Sensation ausgelöst: Das Schülerinteresse war so groß, dass ein zusätzlicher Vorentscheid darüber entscheiden musste, welche sechs von zehn qualifizierten Vorlesern letztendlich antreten durften.

Die Fachkonferenzleiterin Russisch, Angelika Reichel, ist überrascht und glücklich zugleich. „Das sind ja erst einmal nur die Anfänger”, so Reichel, die seit bald 20 Jahren an der Schule und noch länger in Russland ist. „Ich habe das in der Klasse vorgeschlagen und da waren plötzlich alle Feuer und Flamme”, erzählt sie in der Kaffeepause, als die Deutsch-Juroren sich für die Finalisten entscheiden müssen. Im September sei das gewesen: Mit einigen ihrer Leselustigen habe sie zwei- bis dreimal wöchentlich, zusätzlich zu den zwei obligatorischen Unterrichtsstunden, zu Hause trainiert, bisweilen sogar „übers Telefon geübt”. Und nun lesen die Kinder schon laut vor rund 80 Gästen.

„Das ist absolut ausbaufähig”, ist Russischlehrerin Reichel begeistert von der positiven Resonanz und schmiedet schon erste Pläne für eine Fortsetzung im nächsten Jahr. 2017 könnte es also vielleicht schon einen eigenständigen Vorlesewettbewerb auf Russisch geben, mit mehreren Altersgruppen und eigener Jury. Dann kommt womöglich eine von Kästners Lottchen auf Deutsch, die andere auf Russisch daher.

Peggy Lohse

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