Vor dem Gesetz: Menschenrechtsvertreter beunruhigt über neue Regelung zur Migration

In Zukunft müssen Migranten dort ­registriert sein, wo sie sich ­tatsächlich aufhalten. Bisher war eine Registrierung durch empfangende Parteien möglich, wie zum Beispiel Bildungseinrichtungen oder Arbeitgeber.


Migranten und Flüchtlinge seien die Avantgarde der Menschheit, schrieb die Philosophin Hannah Arendt vor dem Hinergrund ihrer eigenen Erfahrung als Vertriebene. Der Umgang mit ihnen sei das Laboratorium der Barbarei. Auch in der Geschichte Russlands hat die Missachtung von Menschenrechten erst schutzlose Minderheiten getroffen und sich dann auf die Bevölkerung ausgeweitet. Heute stellen sich diese Fragen erneut, verschärft und bleiben ungelöst. Während Migranten auch in einem anderen Sinne die Avantgarde der Menschheit sind: getrieben, mutig und stark genug, sich frei zu bewegen und neue Wege zu finden.


Migranten

Ein Arbeitsmigrant entspannt sich vor seiner Baracke /Foto: Reuters

„Wenn du ein durchschnittlicher Arbeitsmigrant aus Zentralasien bist, denkst du das Gesetz sei Gott und Gott sei das Gesetz.“ Die Menschenrechtsanwältin Valentina Tschupik hat ein helles Lachen, ein ansteckendes Lachen, ein Lachen, das durch fast jeden ihrer heiteren und ernsten Sätze klingt. „Denn dann bist du mit großer Wahrscheinlichkeit ein sunnitischer Muslim und das heißt, du wirst Schritt für Schritt so tun, wie es das Gesetz will, um legal zu sein.“

Ihr Lachen verhält sich angenehm zu dem klaren Eindruck, dass hier eine Kämpferin spricht. „Jetzt wird jeder, der bisher schon in einer verwundbaren Position war, in einer noch schwerer verwundbaren Situation sein.“

Die junge Frau bebt vor Zorn über die im vergangenen Monat neu in Kraft getretenen Änderungen des Migrationsgesetzes und deren Erweiterungen zum 10. August. Denn sie ist überzeugt davon, dass die meisten Eigentümer die Registrierung von Arbeitsmigranten nicht übernehmen werden. Sobald das dreimonatige „Patent“ – die Arbeitserlaubnis - abgelaufen sei, werde der legale Status einer unwahrscheinlich hohen Zahl von Arbeitsmigranten auslaufen. Diese würden dann illegal in Russland sein und ein noch leichteres Opfer für solche, welche diese Situation ausnutzen.

Wladimir Mukomel vom Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften aus dem Department für Migration und Integrationsstudien, beziffert die Zahl der Migranten in Russland auf 9 Millionen Menschen, unter ihnen sieben Millionen Arbeitsmigranten. Die meisten von ihnen seien an ihren Herkunftsorten mit größeren Schwierigkeiten konfrontiert, als sie das neue Gesetz mit sich bringe: „Sie werden einfach die neuen Spielregeln annehmen und sich im Übrigen so verhalten wie bisher.“

Das begünstige vor allem die Korruption.

Was sich außerdem für Migranten und Arbeitgeber ändern werde, seien die Löhne. Arbeitgeber würden mit großer Wahrscheinlichkeit das erhöhte Risiko auf die Arbeitnehmer umlegen und also die Löhne reduzieren. 

Dass dies vor allem die Lage schon jetzt prekär lebender Arbeitsmigranten weiter erschweren wird, ist offensichtlich.

Doch nicht nur Menschenrechtsschützer habe das neue Gesetz in den vergangenen Wochen besorgt, fügt Mukomel hinzu. Unter Arbeitgebern werde es ausschliesslich negativ diskutiert und auch Bildungseinrichtungen, die ihre Studierenden nicht mit Wohnraum versorgen könnten, seien betroffen.

Wer profitiere davon? „Niemand“, meint Mukomel.

Arbeistmigrant

Baracken von Arbeitsmigranten in den Vorstädten Moskaus /Foto: Reuters

In dem Restaurant am Weißrussischen Bahnhof fährt Tschupik inzwischen fort zu berichten: Allein heute morgen seien Nachrichten über 50 illegale Gefangennahmen von Arbeitsmigranten auf ihrem Telefon eingegangen, dabei habe sie drei Stunden im Flugzeug gesessen.

Ein Sonntag in Moskau.

Jeder Anruf verweist auf eine singuläre Geschichte. Viele Abende lang könnte und müsste zugehört werden, wenn die Menschenrechtsanwältin über die Situation der prekär Lebenden und Arbeitenden mit Migrationshintergrund berichtet.

Im vergangenen Jahr seien 22 000 Anträge auf juristische Unterstützung über ihren Tisch gegangen, nicht alle von Arbeitsmigranten, auch Familienmigranten seien dabei gewesen und 43 Flüchtlinge, sagt sie. „Wenn es aber 43 Anträge von Flüchtlingen gibt und 10 707  Anträge zu illegalen Gefangennahmen, 2000 Anklagen über Arbeitsausbeutung ohne Lohnzahlung – ich bin auch ein Flüchtling – dann heißt es aber für mich, dass die Flüchtlingsfrage in Russland kein akutes Problem ist.“

Wie das möglich bleibt, während die Welt die größte Flüchtlingskatastrophe der Geschichte sieht, erklärt Tschupik, indem sie ihren eigenen Paß hervorholt: „Hier ist mein Dokument. Dies ist die Nummer meines Antrags: 114512005321. Das ist meine Nummer als Flüchtling: 2042. Eine Person von 11 000 bekommt in Russland den Flüchtlingsstatus.“

Das Internationale Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, die im Mai dieses Jahres eine Erklärung zur Flüchtlingssituation in Russland veröffentlichten, zeigten sich dementsprechend besorgt – weniger über die aktuell in Russland am häufigsten ankommenden Flüchtlinge aus der Ukraine, die der russische Staat speziell unterstützt, als über die Situation aller anderen, die versuchen, sich nach Russland zu retten.

„Ich kann zum Beispiel nach Deutschland kommen und sagen: Ich bin Flüchtling. Bitte nehmen sie mich auf. Dann müssen sie mich aufnehmen, weil jeder weiß, dass Russland für Flüchtlinge kein sicheres Land ist“, sagt Walentina Tschupik während sie den kostbaren Pass zur Ansicht herüberreicht. Die Geschichte der eigenen Flucht, die sie nun erzählt, verweist auf Ende 2017 geschätzte 68,5 Millionen Flüchtlingsgeschichten weltweit.

„Der Geheimdienst von Usbekistan versuchte 2005 unsere Organisation zu annektieren. Ich sagte: Nein. Sie sagten: Gut. Und sie sperrten mich in den Keller,“ berichtet Tschupik. Mehr als vier Monate sei sie jeden Abend nach der Arbeit dahin zurückgekehren. „Das ist, was einem Menschenrechtsanwalt in Usbekistan passiert. Das hatte ich gewusst, als ich mich dafür entschied. Es passiert jedem Fünften und ist einfach normal.“

Normal oder nicht konzentriert sich Tschupiks Heiterkeit während dieser Worte unter den ungewöhnlich starken und gleichzeitig feinen Brauen ihrer wie zum Sprung gesenkten Stirn. „Der Keller, das ist ein Tisch, ein Stuhl, ein Strafverfolger“, fährt sie fort. „Der Strafverfolger sagte zu mir: Warum tun sie das? Ich sagte: Weil Usbekistan ein demokratischer, freier Staat ist. Er sagte: Glauben sie das wirklich? Ich sagte: Sie etwa nicht? Das ist alles und so weiter jede Nacht.“

Als sie sich nach vier Monaten dazu durchgerungen habe, ihrem Vorgesetzten von diesen Nächten zu berichten, sei ihre Freilassung gerade lange genug erwirkt worden, um die alljährliche Erhebung zur Situation der Migranten in Usbekistan zu verfassen, für welche ihre Organisation verantwortlich sei, berichtet Walentina Tschupik. Dann sei sie wieder aufgegriffen und in den Keller gesperrt worden.

In diesem Moment verschwindet das Lachen in ihrem Gesicht. „Aber es war ein verschärftes Regime, ein Ort ohne Tisch und Stühle, nichts. Sie ließen mich nicht sitzen oder liegen oder mich anlehnen, sondern erlaubten mir nur zu stehen, nichts anderes, ich musste nur stehen, stehen, stehen und ich stand 38 Stunden.“

Weil man ihre Mutter angerufen habe, da sie ohne Pass aufgegriffen wurde, habe ihre Organisation interveniert und sie sei freigekommen. „Ich teilte die Dokumente von „Tong Yahoni“, unserer Organisation zur Unterstützung von Arbeitsmigranten auf und gab sie meinen ausländischen Freunden. Jetzt sind sie an 70 Orten in der Welt.“ Woher nur nimmt Tschupik dieses Lachen? Schon ist es zurück.

Dass daraufhin sofort ein Ticket in das erstmögliche Land gekauft werden musste sei ihr klar gewesen. „Ich wusste, das hier in Moskau eine Konferenz war. Ich wusste auch, dass ich nicht zurückkehren kann. So wurde ich ein Flüchtling.“

Doch erste nichtstaatliche Adresse für Flüchtlinge in Russland habe sie wissen lassen, dass die Beantragung eines Flüchtlingsstatus hier keine Aussicht habe, wenig später sei ihr Paß gestohlen worden und russische Behörden hätten aggressiv und grausam versucht, sie in eine Exit-Situation zu zwingen, berichtet Tschupik. Nichtsdestotrotz habe sie auf dem Flüchtlingsstatus bestanden. „Danach ging ich durch die Straßen und weinte. Doch in dem Moment klingelte das Telefon: Du musst sofort zum Gericht kommen, riefen Freunde vom Nationalen Migrationsdienst in Russland.“

Sie lehnt sich zurück. „Da sagte ich: Ich liebe euch, aber leider kann ich das jetzt nicht tun, denn ich habe keine Dokumente, ich wurde ausgeraubt, ich werde bald deportiert und sehr bald ermordet.“ Doch am anderen Ende der Leitung sei ihr versichert worden, sie werde den Flüchtlingsstatus bekommen. „Ich sagte: Niemand kann diesen Flüchtlingsstatus bekommen. Sie sagten: Du kannst. Und ich habe ihn wirklich bekommen.“

Zuletzt kommt Tschupik noch einmal auf die Änderung im Migrationsgesetz zurück: „Als das Gesetz letztes Jahr in die Staatsduma kam, haben wir versucht etwas zu tun und mehr als acht Monate hat sich nichts sich bewegt. Aber in diesem Juni, als alle Menschenrechtsverteidiger im Urlaub waren, da haben sie es in zwei Tagen durchgesetzt.“

Inspiriert von Menschen wie Walentina Tschupik und Wladimir Mukomel ist inzwischen in Russland eine neue Generation herangewachsen. „Migrationsströme sehen nicht auf die Karte und entscheiden hier oder hierher, sie folgen sozialen Netzwerken“, weiß also die junge Migrationsforscherin Anna Rotschewa. „Heute hat hier kaum jemand diesen Status erhalten, daher kennen die Menschen einfach niemanden, der ihn erhalten hat und so kommen sie nicht nach Russland.“

Die von Walentina Tschupik inspirierte junge Juristin Zarnigor Omonillajewa träumt davon, eine eigene Organisation zu gründen, um sich ausschließlich für Arbeitsmigranten einzusetzen, weil es dies in Russland neben den Gewerkschaften bisher nicht gebe. „Es existiert eine sehr einfache Tatsache, welche die Menschen überall auf der Welt vergessen“, sagt sie. „Sehen Sie sich die Geschichte an, Migration war immer, ist, und wird sein. Wir sind alle Migranten, wir wissen nicht, woher unsere Großgroßmütter und Väter kommen. Wir müssen uns für diese Veränderungen öffnen. Russland ist so groß – Russland kann Migranten willkommen heißen.

Fabiane Kemman

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