Von Brest in die EU: Jeden Tag ein Fluchtversuch

Der polnische Grenzbahnhof Terespol ist für Flüchtende aus dem Nordkaukasus das Tor nach Europa. Seit über einem Jahr verwehrt die Grenzpolizei den meisten von ihnen das Recht, Schutz zu beantragen.

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Unfreiwillige Pendler: mit dem Zug geht es über die Grenze – und zurück. /Foto: Nancy Waldmann

Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt des Zuges nach Brest. Die Grenzabfertigung im polnischen Terespol am Rand der Europäischen Union schließt. Ich laufe durch den gefliesten Gang für die Ausreise zum Bahnsteig. Hinter der Glaswand Geschrei.

Dort, wo der Kanal für die Einreise nach Polen verläuft, schaffen zwei Grenzpolizisten eine Frau in geblümtem Kleid und buntem Kopftuch die Treppe hinunter zur Gleisunterführung. Der eine dreht ihr rüde den rechten Arm auf den Rücken, der andere packt sie am linken Arm. Die Frau schreit auf vor Schmerz, ihre fünf Kinder schreien vor Schreck.

Reisende mit und ohne Visum

Die weißrussischen Schaffnerinnen weisen mich zum letzten der drei Wagen. Ihre blau-weißen Uniformen wirken adrett wie die Spitzengardinen an den Zugfenstern. Auf den Pritschen des für Fernreisen gebauten Platzkart-Abteils sitzen schon die Fahrgäste, meist Weißrussen mit Dauervisum, die aus Warschau in die Heimat fahren.

Auf den Bahnsteig treten nun die Grenzer mit der Frau und den Kindern und eskortieren sie vorn in den ersten Wagen, wo all jene sitzen, denen die Einreise verweigert worden ist. „Sind alle drin?“, ruft die Schaffnerin den Grenzern über den leeren Bahnsteig zu.

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Der „Zug der enttäuschten Hoffnungen“ /Foto: Nancy Waldmann

Pünktliche Abfahrt. Der Zug um 10.33 Uhr nach Brest ist der Zug der enttäuschten Hoffnungen. Jeden Tag versuchen 80 bis 150 Menschen hier, ohne Visum oder Aufenthaltstitel in die EU einzureisen. Meist kommen sie aus Tschetschenien, teils aus anderen russischen Teilrepubliken im Nordkaukasus oder aus Zentralasien. Sie suchen Schutz vor Bedrohungen, Folter, Blutfehden oder ein besseres Leben in Europa, häufig beides.

Sie nehmen den Frühzug um 7.09 Uhr aus Brest, knapp 20 Minuten später ist er in Terespol – um 6.28 Uhr, wegen der Zeitverschiebung. Bis halb elf müssen die polnischen Grenzer klären, wer aufgenommen wird. Ein bis drei Familien lassen sie durch, die übrigen schicken sie mit dem Zug nach Weißrussland zurück. Offiziell meist wegen „fehlendem Visum“.

Angst vor Muslimen geht um

Es gibt gefährlichere Wege nach Europa als den über Terespol. Immerhin bietet der Zug aus Brest eine Chance, auf legalem Weg in die EU zu reisen. Seit den Kriegen der Neunziger- und Nullerjahre fliehen Tschetschenen über Terespol nach Europa. Polen gewährte früher vielen Schutz, inzwischen bekommen nur ein bis zwei Prozent der Antragsteller positive Bescheide.

Nun geht die Angst vor Muslimen um und die PiS-Regierung befördert sie. Man müsse den Versuch abwehren, auf einer neuen Route Muslime und damit Terrorgefahr ins Land zu bringen, sagte Innenminister Mariusz Błaszczak 2016.

Manche schaffen es doch

So wird in Terespol seit einem guten Jahr nur noch eine Handvoll Schutzsuchende pro Tag ins Land gelassen. Vielen verwehre die Grenzpolizei ihr Recht, einen Antrag auf „Internationalen Schutz“ zu stellen, beklagen Juristen aus Warschau und Minsk. Der steht Menschen zu, denen in ihrer Heimat „ernsthafter Schaden“ droht.

Doch die Kriterien für die Einreise nach Polen seien willkürlich. Manche schaffen es nach dutzenden Versuchen. Das hält bei den anderen die Hoffnung wach.

Menschen aus dem Nordkaukasus fallen auf

Für Heda, die Frau mit den fünf Kindern, war es das zwölfte Mal. Ihr Mann fühlte sich nicht gut am Morgen, deswegen sind sie ohne ihn aufgebrochen. Heda kann ihren rechten Arm vor Schmerzen nicht heben, auf dem linken hat sie den zweijährigen Alaudin, der sein Gesicht vergräbt.

Heda schaut ernst und gefasst. Sie steigt aus dem vorderen Teil des Zugs im Bahnhof von Brest, der einer Kathedrale ähnelt. Brest ist ein wichtiges Ost-West-Drehkreuz, doch abseits des Bahnhofs merkt man davon wenig. Die Großstadt ist sauber und nahezu frei von Graffiti. Leute aus dem Nordkaukasus fallen auf mit ihren bunten Kleidern und Kopftüchern.

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Bahnhof Brest: Wer nachmittags wieder hier ankommt, hat es nicht geschafft. /Foto: Nancy Waldmann

Am nächsten Tag haben sich an Hedas Achseln und am Handgelenk blaue Flecken gebildet. Im Krankenhaus diagnostiziert der Arzt Quetschungen und vermisst die Blutergüsse. Danach suchen Heda und ihr Mann ein Polizeirevier auf. Ein Beamter nimmt die Anzeige auf. Man überstelle das Protokoll an „die polnische Seite“, sagt er.

Drei Wochen sitzt die Familie in der Stadt fest. Vater Timur ist nervös, der Schweiß rinnt ihm vom Körper in der aufgeheizten Zwei-Zimmer-Wohnung. Der Vermieter holt jeden Tag 25 Weißrussische Rubel ab, etwa elf Euro. Für die Fahrtkarten nach Terespol gehen pro Person acht Euro drauf. „Die polnischen Polizisten verachten uns. Sie hören überhaupt nicht zu“, sagt Timur. Warum er kein Visum habe, werde er immer wieder gefragt. Er findet das zynisch angesichts seiner Lage.

Mehrfach mit dem Tod bedroht

Zwei Jahre habe er sich in seiner Heimat in Inguschetien versteckt. Timur erzählt: Er habe als Journalist beim Fernsehen gearbeitet. Nach dem Dreh am Tatort eines Mordes sei sein Kameramann mitsamt den Aufzeichnungen festgenommen worden und seitdem verschwunden. Er selbst sei mehrfach mit dem Tod bedroht worden. Die Sicherheitsbehörden hätten sich eines Abtrünnigen aus den eigenen Reihen entledigt, angeblich eines Gotteskriegers, lauteten die Gerüchte zum Mord, über den Timur recherchierte. „Schon wenn du zum Beten in die Moschee gehst oder einen Bart trägst, verdächtigen sie dich“, sagt er.

Timurs Erzählung ist keine ungewöhnliche aus den muslimischen Nordkaukasus-Regionen. Im Namen von Terrorismusbekämpfung verschwinden dort immer wieder Personen. Ohne Haftbefehl würden Menschen tagelang in geheimen Gefängnissen festgehalten und gefoltert, es genüge, ein früherer Klassenkamerad oder entfernter Verwandter eines mutmaßlichen Kämpfers der in Russland verbotenen Terrororganisation IS zu sein: Solche Geschichten erzählen viele nach Europa geflüchtete Tschetschenen.

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Mikita Mazjuschtschankau arbeitet für die Menschenrechtsorganisation Humana Constanta. /Foto: Nancy Waldmann

Im Juli folgten Timur und Heda dem Hinweis eines Cousins, der es ins polnische Aufnahmelager geschafft hatte. Sie bestachen den Schaffner und fuhren mit dem Zug über Moskau nach Brest, ohne beim Fahrkartenkauf den Pass vorzulegen.

Grenzkontrollen zwischen Weißrussland und Russland gibt es wegen der Eurasischen Wirtschaftsunion nicht. Das ist auch ein Grund, warum kaum einer der in Brest Gestrandeten im Land bleiben will. Ihre Verfolger können sie problemlos finden. Die Behörden liefern offiziell gesuchte Personen an Russland aus.

Berichte von Auslieferung

Von einer solchen Auslieferung berichtet die Menschenrechtsorganisation Human Constanta. Ein Mann war in Tschetschenien gefoltert und in Polen abgewiesen worden, Weißrussland lehnte seinen Asylantrag ab. Nun soll er ausgeliefert werden, wegen eines Verstoßes gegen Artikel 208 des Russischen Strafgesetzbuchs: Gründung illegaler bewaffneter Gruppierungen oder Teilnahme daran. Der Straftatbestand werde in Tschetschenien regelmäßig angewandt, in Scheinprozessen mit unter Folter erpressten Schuldgeständnissen. So schildern es die russischen Menschenrechtsorganisationen Memorial und Graschdanskoje Sodejstwie in einem Bericht von 2014.

Hoffnung für Verzweifelte

Human Constanta, 2016 von Minsker Aktivisten gegründet, ist die einzige Organisation, die Menschen in Brest auf dem Weg nach Polen unterstützt. Mikita Mazjuschtschankau, ein junger besonnener Mann, ist der einzige feste Mitarbeiter im Brester Büro und Hoffnungsträger für viele Verzweifelte. Ein Telefon hat er am  Ohr, auf dem zweiten tippt er Nachrichten. Er hat in England Internationales Recht studiert. Als er im September 2016 nach Brest kam, saßen dort gerade bis zu 3000 Menschen fest, Familien lebten im Bahnhof. Momentan sind es 250 bis 300.

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Schalterhalle des Bahnhofs in Brest /Foto: Nancy Waldmann

„Die polnische Grenzpolizei hat ihr Vorgehen am Grenzübergang Terespol seit Juli 2016 drastisch verändert“, sagt Marta Górczyńska, Anwältin der Warschauer Helsinki-Stiftung für Menschenrechte.

Die Statistiken der Grenzpolizei stützen die These: 21 697 Menschen mit russischem Pass wurde im ersten Halbjahr 2016 die Einreise nach Polen über Weißrussland verweigert. Bis Ende September 2016 waren es 61 267 – drei Mal so viele, während die Zahl der Anträge auf Internationalen Schutz in Terespol verglichen mit den Vormonaten fiel.

Was niemand verstehen will

Für kurze Zeit wurde überhaupt niemand aufgenommen, berichteten Reisende. Daraufhin kampierten tschetschenische Familien im August 2016 an der grünen Grenze und forderten Aufnahme. Seitdem lassen die Grenzbeamten zwei bis drei Familien täglich durch.

Der Vize-Kommandant der Grenzpolizei in Terespol, Piotr Grytczyuk, bestreitet in seinem Büro, dass es ein Limit für die Zahl der Antragsteller gebe. Ein Teil der Reisenden habe kein Interesse, in Polen einen Antrag auf Schutz zu stellen, wolle weiter in andere EU-Staaten. „Das ist das Problem, das niemand verstehen will“, sagt er.

Grenzbeamte „überhörten“ vieles

Seine Aussage deckt sich mit dem Bericht des polnischen Ombudsmanns für Menschenrechte. Im August 2016 inspizierten dessen Mitarbeiter unangekündigt die Grenzabfertigung am Bahnhof Terespol – die einzigen, die bei den umstrittenen Interviews der Grenzbeamten dabei waren. Dennoch, die Grenzbeamten „überhörten“ vieles.

In 17 Fällen äußerten Menschen ausdrücklich, sie möchten Schutz in Polen beantragen oder nannten deutlich Fluchtgründe, die dazu berechtigen – nur in zwei Fällen wurde dies gestattet. Die Grenzer hätten die Gespräche oft so geführt, dass die Personen als Wirtschaftsmigranten dastanden, auch wenn es kaum zutraf, liest man im Bericht.

„Wir können nichts mehr für sie tun“

Mazjuschtschankau schrieb zunächst formlose Anträge auf Polnisch mit der Fluchtgeschichte, die er seinen Klienten mit auf den Weg nach Terespol gab. Eine Weile funktionierte das. Bis im März dieses Jahres Juristen der polnischen Anwaltskammer nach Terespol reisten, um mehrfach abgewiesenen Personen Rechtsbeistand zu leisten, die sie mithilfe von Human Constanta dazu bevollmächtigt hatten.

Den Anwälten wurde weder Zutritt zu ihren Klienten gewährt noch Einsicht in die Akten. Die Aktion sorgte für Wirbel in polnischen Medien. Seitdem haben jene, die Briefe von Human Constanta vorlegen oder Klienten seiner Warschauer Partner sind, keine Chance mehr. „So bestrafen sie uns“, sagt Mazjuschtschankau resigniert. „Wir können nichts mehr für die Leute tun.“

„Geht doch zu Assad!“

Der einzige Hebel blieb der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Für vier Klienten beantragte Matsiushchankau in Straßburg erfolgreich ein „interim measure“, eine vorläufige Maßnahme nach Artikel 39, per Fax im Eilverfahren. Sie wird verfügt, wenn Personen besonders gefährdet sind, falls sie zurückgewiesen werden. Eine junge tschetschenische Familie sitzt trotz Positivbescheid aus Straßburg bis heute in Brest fest.

Seit Anfang April ist sie in Weißrussland. Russische Staatsbürger dürfen sich nur 90 Tage legal im Land aufhalten. Reisen sie nicht aus und geraten ins Visier der Polizei, kann diese sie der russischen Polizei übergeben. Das Paar fürchtet die Rückkehr nach Russland, wo der Mann gefoltert wurde. Die Familie bat nicht nur in Terespol um Schutz, auch in Litauen versuchte sie es. „Geht doch zu Baschar al-Assad und bittet um Asyl!“, habe man ihnen dort gesagt.

Ein neuer Versuch

Timur und Heda haben sich inzwischen an Human Constanta gewandt. Wegen der Handgreiflichkeiten gegen Heda reichen sie Beschwerde ein bei der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und bei der polnischen Staatsanwaltschaft.

Drei Tage nach dem Vorfall bricht die Familie erneut nach Terespol auf. Für Timur gibt es kein Zurück, er will in Polen Schutz beantragen. Um halb sieben sammelt sich in der Schalterhalle vor dem Tor zur Grenzabfertigung eine Traube von Fahrgästen, die den Frühzug nehmen möchten. Im Gepäck haben Heda und Timur nur etwas Brot sowie Pässe und Geburtsurkunden. Die Stempel füllen allmählich die Pässe, die polnischen Grenzbeamten setzen höchstens drei auf eine Seite. Sind die Seiten voll, kann man nicht mehr reisen. Gelingt die Einreise, bringt ihnen der Vermieter das übrige Gepäck nach, für umgerechnet 30 Euro.

Tickets nur mit Rückfahrschein

Timur kauft sechs Tickets hin und zurück, der Jüngste fährt umsonst. Fahrkarten nach Terespol verkaufen die Bahnbeamten in Brest nur mit Rückfahrkarte. Jedenfalls Fahrgästen, die sie als Flüchtlinge einsortieren. Heda glaubt nicht, dass es an diesem Tag klappt. Alaudin kränkelt und hat sich den Platz auf Mutters Arm gesichert.

Sein Vater schweigt. Der Zug überquert langsam den Grenzfluss Bug, die Bahnstrecke ist in beiden Ländern von hohen Zäunen gesäumt. Telefone zwitschern wegen des Netzwechsels.

„Eine Familie haben sie durchgelassen“

Einfahrt in den leeren Grenzbahnhof Terespol. Erst nach einem Wink der Grenzer lässt die Schaffnerin jene „mit Visa“ aussteigen. Mehrere Familien bleiben im Wagon. Eine gute Stunde dauert die Abfertigung. Bevor die Passagiere ohne Visum drankommen, schickt ein Grenzpolizist die Reisenden, die sich im Wartebereich frisch machen, ins Bahnhofsgebäude auf die andere Seite der Gleisanlagen, wo man von den Flüchtenden nichts mehr mitbekommt. So wie im gesamten Grenzort Terespol. Nur vom Gleis Eins kann man gedämpftes Kindergeschrei hören, das aus den offenen Dachfenstern der Abfertigungshalle dringt.

Gegen 14 Uhr sendet Timur eine SMS aus Brest: „Eine Familie haben sie durchgelassen.“ Sechs Personen, präzisiert in Terespol Vize-Kommandant Piotr Grytczuk. 47 Erwachsene und 68 Kinder hätten „die Einreisebedingungen nicht erfüllt“.

 

Nancy Waldmann ist freie Journalistin. Ihre Recherchereise wurde von der Karl-Gerold-Stiftung finanziert. Die Namen der Flüchtenden wurden von der Redaktion geändert.

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