Die berüchtigte russische Seele ist so breit wie das Land selbst. Sie hat Platz für Nostalgie, Sehnsucht, Melancholie und Ausgelassenheit. Darin liegt kein Widerspruch. Heute ist es die Fotokunst junger Russen, die diese Tradition, der Suche nach dem Russischsein, fortführt.
Im Sammelbecken des größten sozialen Netzwerks Russlands, VKontakte, florieren Gruppen, die unter anderem „Russischer Tod“(194 500 Mitglieder), „Birkchen“ (157 350 Mitglieder) oder „Russische Leere“ (617 00 Mitglieder) heißen. Ausnahmslos jeder kann seine Aufnahmen zusenden. Davon machen zwischen 50 und 100 Leuten jeden Tag Gebrauch, berichten die Moderatoren der Gruppen. Sie sind es auch, die die Fotos auswählen und publizieren. Sie alle haben die Ästhetisierung des Russischseins, die nationale Identität oder die sowjetische Vergangenheit zum Thema. Populäre Postkartenmotive mit Matrjoschkas und Bären fehlen hier. Es geht um Philosophie.
In der Gruppe „Russischer Tod“ dominieren Bilder von rostigen Industriegeländen, auseinanderfallenden Chruschtschowkas und grauen Plattenbauten. Es ist ein Projekt für Menschen, die in Russland leben und nicht versuchen den „Anschein zu machen, dass hier alles okay ist“, schreiben die Gründer. Statt mit dieser unvollkommenen Realität zu kämpfen, setzt diese Gruppe auf Kontemplation: „Den Prozess des Verfalls kann man nicht aufhalten, man kann sich nur daran erfreuen. Schwermut – das ist ein normaler Zustand für den russischen Menschen. Die russische Kultur ist voll von Bildern der Trauer, des Leidens und der Lethargie“, heißt es.
Die Nutzer umarmen gewöhnliche und banale Landschaften und versuchen, ihre Heimat aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Sie lehren ihren Mitbürgern, im Grau der Schlafstädte nicht etwas Schreckliches zu sehen, sondern eine Romantik des Post-Apokalyptischen. „Wozu brauche ich Fallout, wenn ich in Saratow lebe“, steht unter einem zugeschickten Foto geschrieben. Die Aufnahme zeigt einen heruntergekommenen Hinterhof, der mit dem düsteren Computerspiel „Fallout“ verglichen wird. „Im Grunde können wir uns am Post-Apokalyptischen trösten, ohne dabei die Apokalypse erlebt zu haben“, sagt Alxsej Salewskij.
Anders dagegen fasst die Gruppe „Birkchen“ das Russischsein auf. Sie zeigt ein positives Bild, in dem eine heimelige Atmosphäre herrscht: enge Waldpfade, Katzen, die wohlig auf dem Kamin schlafen, Teeglashalter, die an lange Zugfahrten erinnern, und mit Schnee zugedeckte Dörfchen. Wenn sich in diese Bilder Ironie verirrt, dann ist es eine heitere, die humorvoll gemeint ist. Die Gruppe sei eine Illustration ohne Schönfärberei, mit allen Besonderheiten der Geschichte des russischen Volkes, erzählt Darja Medin. „Unser Leitmotiv sind Szenen aus dem russischen Leben.“
Die Aufmerksamkeit auf menschenleere Landschaften rückt die Gruppe „Russische Leere“. Russland ist voll von leeren Orten. In der überfüllten Hauptstadt sieht man sie nicht. Dafür aber, wenn man das unermessliche Land mit der Transsibirischen Eisenbahn durchquert. „Mit Leere meinen wir keine Ödnis“, kommentiert Danijl Maksjukow. „Es ist eine Gruppe über die metaphysische Verschmelzung mit der Natur, eine Rückkehr zu den Wurzeln, die Suche nach Harmonie.“ Das Projekt unterstreiche die Grenzenlosigkeit des russischen Raumes.
Diese drei Gruppen sind nur die Spitze des Eisbergs. Jeden Tag tauchen neue Gruppen auf, in denen „nostalgische“ Fotos ausgetauscht werden. Es sind weder Hurrapatriotisten noch Kritiker des modernen Russlands, sondern eine große Mehrheit junger Nutzer, die zeigen möchte, welches Russland ihr Herz und ihre Seele wärmt.
Von Anastassija Buschujewa