
Ada lebt gemeinsam mit ihrem Vater und ihrem jüngeren Bruder in der nordossetischen Bergbaustadt Misur, eingekesselt von Felswänden. Verzweifelt sehnt sie sich nach Freiheit. Die junge Frau will weg von ihrem Vater Saur, möchte in der Ferne ihr eigenes Leben gestalten. Einmal hat sie schon versucht wegzulaufen, ist aber gescheitert. Nun wartet sie auf die Ankunft ihres älteren Bruders Akim, der es aus Misur hinaus in die Millionenstadt Rostow geschafft und versprochen hat, sie zu sich zu holen. Doch mit Akims Rückkehr werden die Spannungen in der Familie nur noch dramatischer.
Kinoerfolg auf Ossetisch
„Unclenching the Fists“ („Rasschimaja Kulaki“) von Regisseurin Kira Kowalenko ist schon jetzt der große Gewinner des russischen Kinojahres. Im Juni wurde der Film bei den Festspielen in Cannes mit dem Preis „Un Certain Regard“ ausgezeichnet. Nun steht er auch als russischer Beitrag für die Oscarverleihung im kommenden Februar fest.
Kowalenkos Gesellschaftsdrama inszeniert das Schicksal eines Mädchens in einer kaukasischen Kleinstadt. Um die Atmosphäre der Region einzufangen, drehte sie den Film auf ossetisch, auch die Darsteller wurden vor Ort gecastet. Alik Karajew in der Rolle des Vaters und Hauptdarstellerin Milana Agusarowa sind die einzigen professionellen Schauspieler im Team.
Abgeschnitten von der Welt
Dabei ist die Thematik des schweren Lebens in der Peripherie nicht unbedingt neu im russischen Festivalkino. Bereits 2015 gewann Andrej Swjaginzew mit „Leviathan“ den Golden Globe für den besten ausländischen Film. Das Werk erzählt von der lebensfeindlichen Provinz im russischen Norden, in deren Abgeschiedenheit den Figuren wenig Gutes widerfährt.
„Unclenching the Fists“ spielt zwar im Süden der russischen Föderation, doch der Tenor ist derselbe: auch Misur ist abgetrennt von der Welt als solcher. Eingeklemmt zwischen hohen Felswänden und durchbohrt von einer grauen Fernstraße erweckt der Ort das Gefühl absoluter Ausweglosigkeit. Die Bildsprache ist gezeichnet von trister Armut. Aus Einstellungen von verbogenem Altmetall, Straßenhunden oder den Betoneinfassungen der Fernstraße malen ein Bild der Hoffnungslosigkeit.
Eine Welt im Verfall
Trotzdem trägt Saur seinem Sohn nach, dass er die Familie für ein besseres Leben verlassen hat, nennt ihn sogar einen Verräter. Es scheint, weder Saur, noch die Bewohner Misurs als Gemeinschaft sind in der Lage, ihre eigene Hilflosigkeit ob des Zustands ihrer Heimat zu akzeptieren.
Das Motiv des Verfalls zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. In der Wohnung der Familie tröpfelt das Wasser traurig aus der Leitung, Auto und Motorrad geben irgendwann den Geist auf. Auch die Körper der Figuren sind mitgenommen. Saur wird immer wieder von Spasmen in den Händen geplagt, sodass sein jüngerer Sohn ihm beim Autofahren am Lenkrad aushelfen muss. Und Ada selbst hat mit einer Verletzung zu kämpfen, die sie bei einem Terroranschlag in Beslan erlitten hat.
Der Terror der 2000er
Damit greift der Film die turbulente Geschichte des Nordkaukasus in den 2000er-Jahren auf. 2004, während auch der zweite Tschetschenienkrieg in vollem Gang war, nahmen Terroristen im nordossetischen Beslan über 1000 Schüler in Geiselhaft. Bei der Befreiung kamen über 300 Menschen ums Leben. Adas Probleme sind nicht nur mit der wirtschaftlichen Misere ihrer Heimat verbunden. Sie ist auch eng verknüpft mit der Erfahrung der gewaltreichen 2000er.
Durch dieses traumatische Erlebnis verschlimmert sich Adas ohnehin marginale Position innerhalb der Familie noch mehr. Sie leidet unter Bettnässen, immerhin diese Folge des Anschlags könnte wohl durch eine Operation gelindert werden. Aber ihr eigener Vater interveniert, weil er fürchtet, dass seine Tochter „nur nochmal aufgestochert wird“.
Appell zur Emanzipation oder psychologischer Konflikt?
Überhaupt ist Saur eine übergriffige Vaterfigur, die ihre Kinder jeglicher Freiheiten beraubt. Adas Wunsch, Misur zu verlassen, unterbindet er, indem er ihr den Pass abnimmt. Und den ältesten Sohn Akim vertreibt er schließlich, weil der Ada bei ihrem Vorhaben helfen wollte. Der despotische Vater ist ein guter Grund, den Film als eine Kritik der patriarchalen Gesellschaftsordnung im Kaukasus und als Plädoyer für weibliche Emanzipation zu interpretieren.
Doch man kann den Konflikt auch als psychologischen verstehen. Saur klammert sich verzweifelt an das, was ihm nach dem Terroranschlag in Beslan, bei dem er auch seine Frau verloren hat, noch geblieben ist. Selbst seine Krämpfe sind Ausdruck des scheiternden Versuchs, die Fragmente seiner zerbröckelnden Welt zusammenzuhalten. Doch als Saur gegen Ende, als sich seine Gesundheit verschlechtert und er kaum noch sprechen kann, eine krampfhafte Umarmung mit seiner Tochter zu lösen versucht, hält die seine Hand unerwarteterweise fest. Als hätte sie das Gefühl, trotz aller Widrigkeiten nicht ohne die Nähe ihres Vaters auszukommen.
Antonina Tschjertasch