Feminitive im Russischen: Umstrittene Formen von Sichtbarkeit

Es heißt, bei der Überwindung von Geschlechterstereotypen trenne Russland von Europa mehr als ein Jahrzehnt. Während die einen diesen Abstand so schnell wie möglich verkürzen möchten, haben andere es nicht eilig, alles Neue zu übernehmen. Zumindest in der Sprache.

Berufsbezeichnungen für Frauen in unterschiedlichen Sprachen (Foto: vk.com/f_fem)

„Dann schreib doch darüber, aber objektiv.“ Die deutschen Redaktionskollegen hatten meinen unzufriedenen Gesichtsausdruck schlecht übersehen können, als die Rede auf Feminitive kam. So werden im Russischen die weiblichen Formen von Personenbezeichnungen genannt. Und während sich die Diskussion in Deutschland um den sprachlich korrekten Umgang mit einer geschlechterübergreifenden Mehrzahl dreht (Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, MitarbeiterInnen, Mitarbeiter*innen), knöpfen wir uns einstweilen die Einzahl vor. Als Muttersprachler mit fast 50 Jahren Praxis objektiv darüber zu schreiben – nun gut, ich will es versuchen. Was tut man nicht alles für die Zeitung.

Wie halten Sie es eigentlich mit neuen Wortformen? Gewöhnen Sie sich schnell daran? Ja? Daran bestehen große und berechtigte Zweifel. Das eigene Sprachgefühl lässt sich nicht einfach außer Kraft setzen. Der Literatur-Nobelpreisträger Iwan Bunin schrieb einmal über die Rechtschreibreform von 1918: „Auf höchstpersönlichen Befehl des Erzengels Michael werde ich die bolschewistische Rechtschreibung niemals akzeptieren.“ Da hätten Sie, Iwan Alexejewitsch, die heutigen Feminitive sehen sollen.

Eine Frau als „guter Arzt“

In Russland gibt es weibliche Minister, Offiziere und Generäle, Briefträger und Rechtsanwälte, doch ihre Berufsbezeichnungen sind männlich. Dabei kennt die russische Sprache durchaus Mittel, auf das Geschlecht hinzuweisen. Für Familiennamen, Adjektive und sogar Verben stehen weibliche Endungen zur Verfügung. Doch damit ist man nicht aus dem Schneider. Längst nicht alle Familiennamen haben eine weibliche Form, Verben zeigen das Geschlecht nur im Präteritum an und Adjektive machen die Sache bei männlichen Berufsbezeichnungen für Frauen nicht besser. So heißt es dann: „Иванова – хороший врач“, also „Frau Iwanowa ist ein guter Arzt“.

Damit sind nicht alle glücklich. Sima Piterskaja, Feministin sowie – nach eigener Wortwahl – Kreativka, Autorka und Musikantka, sagt: „Warum ist es wichtig, das Geschlecht zu betonen? Weil man die Arbeit von Frauen in unterschiedlichen Berufen sichtbar machen muss.“ Auch Galina Michaljowa, Vorsitzende der Genderfraktion innerhalb der Jabloko-Partei, findet es notwendig, „Frauen in Rollen, die früher Männern vorbehalten waren, sichtbar zu machen“. Um diese Schieflage zu korrigieren, greift man zum Feminitiv. Wörter werden durch Anhängen eines weiblichen Suffixes „feminisiert“.

Die Medien halten sich zurück

In den Weiten des Internets wird das Thema lebhaft erörtert. Aber versuchen Sie mal, auf den Seiten namhafter Medien wie „Kommersant“, „Wedomosti“ oder „Meduza“ das Wort „Autorka“ zu finden! Das dürfte schwer werden. Ist es an der Zeit, die Redaktionen der Frauenfeindlichkeit zu überführen?

An der Stelle muss erwähnt werden, dass es mit den weiblichen Formen in Russland etwas schwieriger ist als in Deutschland. Oder zumindest anders. Im Deutschen existiert praktisch nur ein Suffix (-in). Im Russischen kennt man ihn auch (Gerzoginja), doch es gibt noch eine Fülle weiterer: die romanische Version -ess (Poetessa), das slawische -k (Studentka) und andere mehr. „Eure Suffixe entbehren jeder Logik, da platzt einem ja der Schädel“, sagt eine Deutsche, die schon seit anderthalb Jahrzehnten in Russland lebt und exzellent Russisch spricht.

Autorka ist nicht gleich Autorin

Aber es geht nicht nur um Grammatik, sondern auch um Inhalte. Die russische Autorka ist nicht identisch mit der deutschen Autorin. Sie ist eine schreibende Feministin. So zumindest die Außenwahrnehmung. Und in ihrem Urteil über solche Feminitive sind Frauen oft kategorischer als Männer. „Für mich ist es beleidigend, wenn nicht meine Professionalität hervorgehoben wird, sondern mein Geschlecht“, meint Alexandra Slawjanskaja, Leiterin der Wohltätigkeitsstiftung „Glückliche Welt“. Sie will keine „Doktorka“ sein, das sei doch „unterirdisch“, denn: „Wichtig ist nicht, was unter meinen Jeans steckt, sondern wie effektiv ich als Manager bin. Wenn ich nach Hause komme, ziehe ich mich um und bin auch ohne jegliche Feminitive eine Frau und Mutter.“ Das ist ein Klassiker. Schon Marina Zwetajewa, ein großer Name in der russischen Literatur, bestand darauf, Poet zu sein und keinesfalls Poetessa.

Zumindest ein Teil des feministischen Lagers hat damit kein Problem. „Wenn eine Frau in der Selbstdarstellung auf den Feminitiv verzichtet, sollte man sie auch nicht dazu zwingen, ihn zu verwenden“, so Sima Piterskaja. Männer haben da scheinbar weniger Glück. Wenn sie solche Wörter ablehnen, sind sie – nach den Stimmen von Feministinnen zu urteilen, die ich erhalten habe – schnell der Misogynie verdächtig.

Wie ein Tamtam in einem Klavierstück

Der Fairness halber sollte gesagt werden, dass Feminitive im Russischen beileibe nichts Neues sind. „Wir leben mit ihnen, ohne es zu merken“, sagt Galina Michaljowa. Als Beispiele führt sie die Utschitelniza (Lehrerin), die Kassirscha (Kassiererin) und die Stewardessa (Stewardess) an. Nach der Oktoberrevolution von 1917 gab es einen wahren Boom von weiblichen Berufsbezeichnungen. Doch interessanterweise haben sich die einen durchgesetzt, andere dagegen nicht. Oft ist zu hören, dass Frauen in bestimmten „Männerberufen“ einfach nicht vertreten waren. Das mag sein, aber weibliche Pendants für Pilot und Kranführer gibt es, für Arzt jedoch nicht. Und das dürfte wohl kaum daran liegen, dass mehr Frauen Flugzeuge fliegen als Menschen gesund zu machen.

Doch warum stoßen die neuen Feminitive auf solchen Protest? Alexandra Slawjanskaja führt das „Prinzip des Wohlklangs“ ins Feld. „Warum die Sprache mit etwas verhunzen, das nicht zu ihr passt?“ Wo sie recht hat, hat sie recht. Einige Wortvarianten klingen einfach schauderhaft, so wie членкиня (Tschlenkinja, eine weibliche Form von член, das Mitglied). Leute, ist das euer Ernst? Das kann man ja nicht mit anhören. Es klingt, als ob man Stoff zerreißt oder Glas zerkratzt. Als ob inmitten des Impromptu Nr. 2 von Schubert plötzlich jemand auf dem Tamtam zu spielen beginnt.

Wo kommen solche Worte her? Aus dem „Feminisator“, einem Online-Generator für Feminitive? Sprache entwickelt sich weiter, neue Wörter und grammatikalische Konstruktionen werden teilweise von den Sprechenden und Schreibenden in ihren Wortschatz aufgenommen. Kein Dekret kann ihnen das verbieten, so wie auch niemand Leuten verbieten kann, sich Autorka zu nennen. Doch alle, die das nicht tun wollen, haben meine vollste Unterstützung. Europa sollten wir lieber bei der Ausmerzung häuslicher Gewalt auf den Fersen bleiben.

Igor Beresin

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