Ein Dorf, das (nicht) von gestern ist

Viele Dörfer in Russland trauern den Kolchosen und der Vollbeschäftigung aus Sowjetzeiten nach. Nicht so Wjatskoje. Die 800-Seelen-Gemeinde rund 300 Kilometer nordöstlich von Moskau lüftet gerade ihren sowjetischen Grauschleier, so dass eine frühere Vergangenheit zum Vorschein kommt: Seine Blütezeit erlebte der Ort nämlich im 19. Jahrhundert. Mit zahlreichen bereits restaurierten Bauten, Museen und dem Status eines der schönsten Dörfer Russlands lockt er heute um die 100.000 Besucher pro Jahr an.

Wjatskoje hat viele Schokoladenseiten. Das ist eine davon. / Museumskomplex Wjatskoje

Gäste werden in Russland von alters her mit Brot und Salz empfangen. In Wjatskoje reicht mir Larissa Kowalenko, die Direktorin des privaten Museumskomplexes, zur Begrüßung ein paar Salzgurken. Sie sind ein Wahrzeichen des Ortes. Die ausgezeichneten Böden, die selbst kreierte Salzlake und die selbst gefertigten Gurkenfässer sowie ihre Lagerung auf dem Grund des Flusses Uchtomka sorgten für eine unvergleichliche Qualität, schwärmt meine Gastgeberin.

Die Gurken schmecken wirklich gut. Allerdings kann ich keinen wesentlichen Unterschied zu anderen wohlschmeckenden Salzgurken feststellen, die ich im Laufe meines Lebens im In- und Ausland probieren durfte. Doch die Einwohner von Wjatskoje sind stolz auf ihr Aushängeschild. Traditionen werden hier überhaupt mit besonderer Leidenschaft gepflegt.

„Für uns ist wichtig, den Besuchern essbare Mitbringsel anzubieten“, sagt Kowalenko. „Gäste können nicht nur Salzgurken, sondern auch Gläser mit Marmelade, ofenfrische Backwaren und andere Leckereien erwerben, die von Dorfbewohnern zu Hause zubereitet werden.“ Am Tourismus soll die örtliche Bevölkerung möglichst breit partizipieren. Nach dem  massiven Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion setzt der Ort voll auf den Fremdenverkehr. Allein der Museumskomplex hat 120 feste Angestellte und ist damit der größte Arbeitgeber im Dorf. Ohne diesen Wirtschaftsmotor bliebe den Einwohnern im strukturschwachen Nekrassow-Kreis nicht viel übrig, als ihr Glück in der Gebietshauptstadt Jaroslawl oder gleich in Moskau zu versuchen.

Alte Schule: In Wjatskoje könnte man sich manchmal in einem vergangenen Jahrhundert wähnen. / Museumskomplex Wjatskoje

Die Entfernung von Wjatskoje nach Jaroslawl beträgt 40 Kilometer. Zum ersten Mal urkundlich erwähnt wurde der Flecken 1502. In den letzten Jahrzehnten des russischen Zarenreichs erlangte das Dorf nicht zuletzt durch seine Märkte einen beachtlichen Wohlstand. Davon zeugen bis heute 53  Steingebäude aus dem 18. und 19. Jahrhundert, von denen 32 in jüngster Vergangenheit rekon­struiert wurden. An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert habe es in Wjatskoje 26 Läden, sieben Wirts- und drei Gasthäuser gegeben, erzählt Larissa Kowalenko. Es sei die „goldene Zeit“ des Ortes gewesen, an die man heute anknüpfen wolle.

Nachdem in Russland 1861 die Leibeigenschaft abgeschafft wurde, mauserten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Wjatskoje ehemalige Bauern zu erfolgreichen Kaufleuten. Sie gaben sich große Mühe, den Lebensstil der Adligen und Beamten aus St.  Petersburg oder Moskau nachzuahmen, kauften gerne Schmuck, Porzellan, feine Kleidung und teure Musikinstrumente, mit denen sie die Nachbarn beeindrucken konnten.

Dieses Phänomen der „neuen Russen“, die ihren Konsum gern zur Schau stellen, beschrieb auch der bekannte russische Dichter Nikolaj Nekrassow (1821–1877) in seinem Poem „Wer lebt in Russland froh und frei?“. Sieben Bauern treffen sich auf einem Markt und stellen sich eben diese Frage. Bei Nekrassow heißt der Schauplatz Kusminskoje. Historiker und Literaturwissenschaftler vermuten jedoch, dass Wjatskoje für die Handlung Pate gestanden hat. Der Dichter war hier oft zu Besuch, besaß in der Nähe ein Landgut.

Der Museumskomplex in Wjatskoje wurde im Dezember 2008 eröffnet. Besitzer ist der Großunternehmer, Kunst- und Antiquitätensammler Oleg Scharow, der mit seiner Familie im Ort lebt. Scharow habe seinerzeit ein Haus gesucht, so Kowalenko, und sei begeistert von so viel erhalten gebliebener historischer Bausubstanz gewesen. Also habe er beschlossen, nicht nur ein Haus zu kaufen, sondern gleich mehrere, um sie zu restaurieren und ein Freilichtmuseum zu gründen.

Die Christi-Auferstehungskirche aus dem 18. Jahrhundert. / Museumskomplex Wjatskoje

Zum Museumskomplex gehören elf Museen. Herzstück ist das Heimatmuseum, in dem nicht nur Gebrauchsgegenstände, Spielzeug, Kleidung und ähnliche typische Exponate ausgestellt sind, sondern das auch eine große Sammlung  mechanischer Musikautomaten enthält. Die meisten Ausstellungsstücke stammen nicht aus Wjatskoje, sondern wurden von Scharow im Laufe der Zeit zusammengekauft. Was sie mit Wjatskoje zu tun haben, ist nicht immer klar. Es gibt auch ein Museum der Küchen­utensilien, ein Engel-, ein Spielzeug- sowie ein Kupferstich- und Druckereimuseum.

Unter den architektonischen Kleinoden des malerischen Orts sind nicht nur Kaufmannshäuser, sondern auch die Feuerwehr, die heute als Konzert- und Versammlungssaal genutzt wird, und zwei Kirchen: Die Christi-Auferstehungskirche von 1750 erstrahlt seit Kurzem in neuem Glanz. Die Mariä-Himmelfahrt-Kirche von 1790 dagegen wurde in den 30er Jahren gesprengt und harrt als Ruine noch ihres Wiederaufbaus.

Schon heute wirkt Wjatskoje nicht wie ein klassisches russisches Dorf, sondern eher wie ein kleines Kurstädtchen. Die meisten Besucher sind Tagesausflügler. Das Gelände des Museums ist jedoch so groß und es gibt so viel zu sehen, dass ein Tag zur Besichtigung kaum ausreicht. Im vergangenen Jahr verzeichnete das Hotel des Museumskomplexes bereits 20.000 Übernachtungen. In Wjatskoje hofft man nun, dass in Zukunft viele Gäste sogar länger bleiben als nur über Nacht und damit auch das nötige Geld in die Kassen gespült wird, um die gute alte Zeit aus dem 19. Jahrhundert wieder aufleben zu lassen.

Ilja Brustein

 

Russlands schönste Dörfer

Im Sommer 2015 wurde in Moskau der Verband der Schönsten Dörfer Russlands gegründet. Als Interessenvertretung vereint er Orte mit bis zu 2000 Einwohnern, die zehn Kriterien – von ästhetischen über architektonische bis zu ökologischen, kulturellen und touristischen – erfüllen. Die Organisation ist assoziiertes Mitglied des 2003 gegründeten Verbandes der Schönsten Dörfer der Welt.

Zum ersten „schönsten Dorf Russlands“ wurde am 15. Oktober 2015 Wjatskoje gekürt. Inzwischen enthält das Verzeichnis 41 Dörfer. Mit 24 Dörfern besonders stark vertreten ist die nordrussische Region Archangelsk, gefolgt vom sibirischen Burjatien (8).

 

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