„Vor dem Wettbewerb dachte ich, dass nur wenige von uns in Russland geblieben sind. Als ich dann daran teilnahm, verstand ich, dass wir noch ziemlich viele sind. Jeder von uns, insbesondere die für den Preis Nominierten, ist bereit, das Leben der Russlanddeutschen und aller Bürger des Landes besser zu machen.“ Diese Worte, die Peter Tissen, einer der Preisträger während der Verleihung äußerte, geben ganz genau die Idee des Projektes „Russlands herausragende Deutsche“ wieder. Ein gewisser Wettbewerbsgedanke darf dabei nicht fehlen, aber er spielt bestimmt eine untergeordnete Rolle. Weitaus bedeutsamer ist das Motiv, Bekanntschaften zu schließen und zu kommunizieren, das Gefühl der Gemeinschaft der Russlanddeutschen und die Möglichkeit, von sich reden zu machen. Es lohnt sich wirklich, über die in Russland lebenden Deutschen zu berichten, um die deutsche Minderheit in Russland sichtbar zu machen.
In der Residenz der Herrscherin
Diesen Gedanken hob der Präsident der Föderalen national-kulturellen Autonomie (FNKA) der Russlanddeutschen Konstantin Matis in seinem Grußwort hervor. Er erinnerte auch an den 260. Jahrestag des „Einladungsmanifestes“ Katharinas II., das den Weg ins Russische Reich freimachte, auch für die Vorfahren der heutigen Preisträger.
Mit Katharina II. war nicht nur die Zeit, sondern auch der Ort verbunden. Die Villa in der Wolchonka, wo am 16. September die Auszeichnungszeremonie stattfand, gehörte im 18. Jahrhundert zum Palast an der Pretschistenka, der zeitweiligen Residenz der Herrscherin. So hat der Wechsel der Preisverleihung vom Katharina-Palast in Zarizyno an den neuen Ort die Tradition nicht verletzt: Die Achtung für die russische Herrscherin war am neuen Ort absolut gegeben. Die Atmosphäre war diesmal etwas intimer im Vergleich zu den Veranstaltungen im prächtigen Palast in Zarizyno. Aber das war ein Gewinn. Preisträger, Gäste und Organisatoren konnten nach Herzenslust miteinander kommunizieren.
Sie haben diese Möglichkeit auch voll ausgenutzt. Wie die Vorsitzende des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur (IVDK) Jelisaweta Graf der MDZ erzählte, konnte sie schon vor dem offiziellen Festakt mit Peter Tissen sprechen. Gemeinsame Themen musste man nicht lange suchen. Erstens sind sie Kollegen, beide sind Lehrer. Tissen ist der Direktor des Institutes für Körperkultur und Sport an der Staatlichen Orenburger Pädagogischen Universität. Zweitens die Sprache. „Wir haben eine Stunde lang Plattdeutsch gesprochen“, teilte Jelisaweta Graf mit. Es stellte sich heraus, dass in der Familie Peter Tissens Plattdeutsch gesprochen wurde. Im Gespräch mit der MDZ sagte er, dass er erst während seines Armeedienstes Russisch gelernt habe.
Die ruhmreiche Verhanhenheit, die sichere Zukunft
Das Thema Geschichte, Gedenken und Kontinuität war auf den Veranstaltungen „Russlands herausragende Deutsche“ immer eines der wichtigsten. So ist der Wettbewerb angelegt. Eine ganze Nominierung ist darauf ausgerichtet: In diesem Jahr wurde in der Kategorie „Name des Volkes“ der sowjetische Wissenschaftler und Akademie-Mitglied Pjotr Rehbinder (1898-1972) genannt. Dieser Name ist schon in die Annalen eingegangen: Als Rehbinder-Effekt bezeichnet man die von ihm beschriebene Änderung der mechanischen Eigenschaften eines Werkstoffs, die unter dem Einfluss grenzflächenaktiver chemischer Substanzen adsorbiert wurden. Alle Auszeichnungen und Verdienste des Wissenschaftlers aufzuzählen, ist nicht leicht. Der Historiker und Mäzen Denis von Meck, der die Laudatio auf den Preisträger hielt, erzählte auf der Bühne der Villa in der Wolchonka nur von einigen seiner Erfolge, darunter die faktische Anerkennung eines neuen Wissensbereiches – der physikalisch-chemischen Mechanik.
Wenn Rehbinder die ruhmreiche Vergangenheit verkörpert, so ist Sofia Schmidt die Zukunft. Sofia gewann den Arthur-Karl-Preis in der Kategorie „Gesellschaftliches Engagement“. Die Studentin der Staatlichen Tjumener Medizinischen Universität kennt man schon heute in der Region. Sofia ist Mitglied der Jugendkammer in der Tjumener Gebietsduma und regionale Koordinatorin der allrussischen Bewegung „Medizinervolontäre“. Außerdem leitet sie das soziale Projekt „Reproduktive Gesundheit“ für Schüler und Studenten.
Auch Viktor Eckhardt ist in seiner Region bekannt. Er ist ein waschechter Bewohner von Workuta, sein gesamtes Leben ist mit dieser Stadt verbunden. Der Sohn und Enkel der Deutschen, die Repressalien unterworfen wurden, kam im Mai 1948 in einem der größten Gulag-Lager zur Welt. Gleich nach der Schule ging er ins Bergwerk arbeiten. Er durchlief den Weg vom Schlosser, der die Ausrüstung repariert, bis zum Generaldirektor der AG „Workutaugol“ Eckhardt unterrichtet und forscht. Der Doktor der technischen Wissenschaften und Mitglied der Akademie der Bergbauwissenschaften Viktor Eckhardt gewann den Boris-Rauschenbach-Preis in der Kategorie „Wissenschaft“.
Tänzer gewinnen
Die Nominierung im Sport, die nach dem berühmten Schwerathleten und Olympiasieger von Tokio 1964 Rudolf Pflugfelder benannt wurde, zog immer die meiste Aufmerksamkeit auf sich. Was kamen da nicht alles für Sportarten vor. Im vorigen Jahr wurde die Snowboarderin Kristina Paul ausgezeichnet, 2019 Vitali Robertus, mehrfacher Weltmeister im Modellfliegen. Bei der diesjährigen Preisverleihung war in der Villa in der Wolchonka ein weiterer Sportler anwesend. Der Segelsportler Nikolaj Litau überquerte als weltweit Erster den Nordlichen Seeweg. Er überreichte dem diesjährigen Preisträger, dem Tanz-Trainer, Finalisten der russischen Meisterschaften bei Amateuren und Profis sowie Teilnehmer der Master-Gala in Innsbruck (Österreich) Denis Kasper die Auszeichnung.
Der Tanz konnte auch in der Kategorie „Kunst“ gewinnen. Preisträger des Wettbewerbs „Russlands herausragende Deutsche“ wurde der Ballettmeister, Vorsitzende der Künstlervereinigung der Russlanddeutschen, Regisseur, Komponist, Dichter und Leiter des Tanztheaters „Ljallen“ Arnold Rainik. Er ist eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten unter den Russlanddeutschen und ganz sicher eine der schillerndsten. Viele haben schon lange auf seinen Sieg gewartet, nun ist es endlich geschehen.
Ein weiteres zu erwartendes Ereignis in diesem Jahr war die Einrichtung einer neuen Kategorie – „Effektiver Leiter“. Das war eine logische Entscheidung: Wie kann man den Beitrag derer anerkennen, die gerade als Leiter erfolgreich geworden sind? Davon gibt es viele, besonders in den Regionen des Landes, wo schon immer viele Deutsche lebten. Vorher konnten solche Personen in die Kategorie „Gesellschaftliche Tätigkeit“ fallen, aber das ist nicht ganz richtig. Jetzt hat man diesen Mangel behoben. Erster Preisträger in der neuen Kategorie wurde der Vorsitzende des Industriellen-Verbandes des Altai-Gebietes, der Geschäftsführer der Firma „Altaier Werk für Präzisionsgeräte“ Viktor German.
Sie halten das Niveau
Die MDZ verfolgt diesen Wettbewerb seit langem. Jedes Mal werden interessante Persönlichkeiten nominiert. Und jedes Mal steht die Frage: Wie können die Veranstalter das Niveau halten? Woher nehmen sie so viele herausragende Deutsche? Nehmen sie kein Ende? Nein, sie nehmen kein Ende. Sie leben, arbeiten und träumen.
Wovon die Nominierten träumen, erzählten sie am Vorabend der Preisverleihung dem Portal „RusDeutsch.ru“. Zum Beispiel davon, nach der Beendigung des Medizinstudiums „erfolgreich die Arztkarriere zu starten“ und „eine starke, einträchtige und aktive Familie zu gründen“. Oder „sich jetzt gleich mit den Verwandten aus Deutschland zu treffen.“ Oder auch „zu sehen, wie meine Schüler mich übertreffen.“ Aber die häufigste Antwort von allen klang gleich: „Ich träume jetzt vom Frieden.“
Igor Beresin