Nikolaj Litau: Der deutsche Seefahrer, der aus der Steppe kam

Zu den zahlreichen in- und ausländischen Auszeichnungen, die Nikolaj Litau (66) in seinem Leben eingeheimst hat, kam diesen Herbst eine weitere hinzu: Der Yacht-Kapitän aus Moskau, vierfacher Weltumsegler, wurde als „Russlands herausragender Deutscher 2021“ auf dem Gebiet des Sports ausgezeichnet. Die MDZ hat den Russlanddeutschen getroffen.

Nikolaj Litaus Segelyacht „Apostel Andreas“ auf großer Fahrt (Foto: Anna Solotina)

Unlängst hat Nikolaj Litau in Twer mit Gleichgesinnten den 25. Geburtstag seiner Yacht „Apos­tel Andreas“ gefeiert. Ein Vierteljahrhundert auf allen Weltmeeren – Litau war dort, wo gewöhnliche Menschen nie hinkommen, selbst wenn sie sich reisefreudig nennen und etwas für Exotik übrig haben. Die Arktis und Antarktis haben es ihm besonders angetan, viermal hat er die Welt umsegelt. Umgekehrt waren die meisten Pauschaltouristen schon an Orten, die dieser Weltreisende nie aus der Nähe gesehen hat. In Ägypten zum Beispiel. „Ich bin wahrscheinlich der letzte Moskauer, der es noch nicht bis dorthin geschafft hat“, scherzt Litau. Sich an den Strand zu legen, würde er vielleicht drei Tage aushalten, schätzt er. Probiert hat er es nicht.

Die Verwandtschaft lebt in Deutschland

Aber Nikolaj Litau, der Russlanddeutsche, passt eben nicht in übliche Raster. Seine gesamte Verwandtschaft siedelte Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland über, darunter seine Mutter und drei Schwestern. Er blieb als einziger. Und hat es nie bereut. Es waren aufregende Zeiten damals, in denen irgendwie alles möglich schien und noch mehr aus dem Bauch heraus und nicht über den Kopf entschieden wurde. Von 1993 bis 1996 ließ sich Litau im traditionsreichen Waggonbauwerk in Twer seine Yacht bauen. Ob er heute bei der Sponsorensuche auch auf so viele offene Ohren stoßen würde, bezweifelt er. „Die Leute waren irgendwie abenteuerlustiger. Heute läuft alles in viel geregelteren Bahnen.“

Über drei Ecken kam sogar ein Kontakt zum damaligen Kirchenpatriarchen Alexius II. zustande, auch ein Deutscher. Er taufte die Yacht auf den Namen „Apostel Andreas“. 1998 und 1999 durchquerte Litau mit seinem Schiff die Nordostpassage, wobei er zwischendurch in der Hafenstadt Tiksi überwintern musste.


Russlands herausragende Deutsche

Seit elf Jahren zeichnet der Internationale Verband der deutschen Kultur Russlanddeutsche aus, die sich auf verschiedenen Gebieten verdient gemacht haben, etwa in der Kunst, der Wissenschaft oder der Pädagogik. Über die jeweiligen Nominierungen kann im Internet abgestimmt werden. Bisher wurden auf diese Weise 66 Preisträger aus 20 Regionen Russlands ermittelt. Die Preisverleihung erfolgt jedes Jahr im September beim Großen Katharinenball im Schloss Zarizyno.


In den letzten Jahren läuft die „Apostel Andreas“ mit ihrer Mannschaft jeden Sommer ins Nordpolarmeer aus, um dort russische Inseln anzusteuern. Nikolaj Litau wandelt damit auf historischen Spuren. Er und die Seinen errichteten beispielsweise auf der Wiese-Insel ein Denkmal für deren Namensgeber Wladimir Wiese, einen russischen Ozeanographen deutscher Abstammung. Im kommenden Jahr geht es auf die Bennett-Insel, von wo aus 1902 der Polarforscher Eduard Gustav von Toll, wiederum ein Deutscher in russischen Diensten, spurlos verschwand.

Deutsche unter russischer Flagge

Auf hoher See sei die Nationalität ohne Bedeutung, sagt Litau. Dennoch gefällt ihm der Gedanke, dass die vielleicht berühmtesten deutschen Seefahrer nicht unter deutscher, sondern russischer Flagge segelten und Russlands Ruhm auf den Weltmeeren mehrten, etwa Adam Johann von Krusenstern, Fabian Gottlieb von Bellingshausen oder Otto von Kotzebue. In dieser Tradition sieht er sich auch ein wenig selbst. „Ich bin stolz auf meine deutsche Herkunft und habe sie nie verheimlicht.“

Litau, Jahrgang 1955, wurde in Nordkasachstan geboren. Dabei stammte seine Familie aus der Ukraine. Seine Eltern kamen noch dort zur Welt, wurden aber zusammen mit den Großeltern Ende der 1930er Jahre nach Kasachstan zwangsumgesiedelt, wie so viele andere Deutsche. Die genauen Gründe kennt Litau nicht, aber seine Antwort, das habe der „Vater der Völker“ veranlasst, also Stalin, dürfte der Wahrheit ziemlich nahe kommen.

Familie nach Kasachstan zwangsumgesiedelt

Nach Kriegsbeginn mussten Teile der Familie in der Arbeitsarmee schuften. Der Großvater war bis zu seinem Lebensende nicht gut auf die Sowjetmacht zu sprechen. Er habe nächtelang die „Deutsche Welle“ gehört und davon geträumt, irgendwann Deutschland mit eigenen Augen zu sehen, erzählt sein Enkel. Letzteres war allerdings nur ihm vergönnt. Noch in den 1980er Jahren besuchte er mehrfach eine Tante, die inzwischen in der DDR lebte. Heute ist er hin und wieder beim Rest der Familie in Deutschland zu Gast.

Der kleine Ort, in dem er aufwuchs, heißt Pridoroschnoje. Seinerzeit trug er allerdings noch seinen kasachischen Namen Saryaj­gyr. Nur Kasachen gab es im Dorf so gut wie keine, dafür viele Russen und Deutsche. In der Fremde sei Deutsch als Muttersprache schon in der Generation seiner Eltern mehr und mehr verloren gegangen, sagt Litau. Seine jüngeren Schwestern hätten es nur noch in der Schule gelernt.

Sie nannten ihn „Faschist“

Praktisch die gesamte Dorfbevölkerung arbeitete im Sowchos. Und auch die Kinder halfen früh in der Landwirtschaft mit. Die Gegend nahe der heutigen Staatsgrenze zwischen Kasachstan und Russland markierte den Übergang von der Waldsteppe zur Steppe. „Im Erdkundeunterricht hörten wir von Bergen, von Schluchten, dann ging man vor die Schultür und sah nichts als flaches Land“, so Nikolaj Litau.

In seinem Heimatort war er schon seit 40 Jahren nicht mehr. Alle Deutschen seien längst weggezogen, von den alten Mitschülern ist kaum noch jemand übrig. Er sah dort schon nach Schule und Wehrdienst keine Zukunft für sich. Der Sieger aller möglichen Mathe-Olympiaden wollte studieren, die große, weite Welt entdecken, auch wenn man ihn gelegentlich „Faschist“ nannte – „und nicht immer nur im Scherz“. In Moskau arbeitete er sich in einer staatlichen Baufirma hoch, war lange Leiter ihres Fahrzeugparks. Nach 17 Jahren zog es ihn aufs Meer. Und heute ist die große, weite Welt sein Zuhause.

So oder so? St. Petersburg ist seine Lieblingsstadt

Sommer oder Winter?

Natürlich Sommer. Dann geht es aufs Meer. Von Anfang Juli bis Anfang Oktober sind wir mit der Yacht unterwegs.

Arktis oder Antarktis?

Da würde ich mich lieber nicht entscheiden müssen. Aber ich sag mal Arktis, denn die ist ja so gut wie „nebenan“.

Szene mit Eisbär: Nikolaj Litau in der russischen Arktis (Foto: Anna Solotina)

Eisbär oder Braunbär?

Eisbär. Von denen habe ich zumindest deutlich mehr gesehen. Meist sind wir uns dabei nicht besonders nahe gekommen. Aber einmal musste ich einen Eisbär vertreiben, der ziemlich entschlossen auf mich zulief. Das war auf Sewernaja Semlja, unsere Fotografin hat die Szene sogar im Bild festgehalten. Mit einer Gummikugel habe ich das Tier in die Schulter getroffen und es hat sich verzogen.

Sowjetunion oder Russland?

Russland. Die Zeit der Sowjetunion ist vorbei.

Metro oder Auto?

Auto. Ich habe fast schon von Kindesbeinen an hinterm Steuer gesessen. Außer Straßenbahnen kann ich so gut wie alles fahren.

Luschkow oder Sobjanin?

Luschkow. Es wird oft vergessen, dass er es war, der begonnen hat, Moskau als Bürgermeister zu der modernen Stadt zu machen, die es heute ist. Ich bin kein Fan von Sobjanin. Ja, es tut sich viel, aber nicht alles wird dadurch besser.

Moskau oder St. Petersburg?

Ganz klar St. Petersburg. Ich liebe diese Stadt, auch wenn ich in Moskau wohne. 1976 habe ich im damaligen Leningrad zum ersten Mal das Meer gesehen und meine ersten Weißen Nächte erlebt. Ich war so verzaubert, dass ich mir die Nächte um die Ohren geschlagen habe, weil ich von der Stadt nicht genug kriegen konnte. Heute bin ich jedes Jahr vom April an in St. Petersburg, wo auch meine Yacht steht. Ich habe viermal die Welt umsegelt und alle möglichen Städte gesehen, aber wenn ich irgendwohin umziehen würde, dann nur nach „Piter“.

Tino Künzel

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