Wenn der eintönige Alltag zum Kunstobjekt wird

Wer wissen möchte, wie junge Russen mit einer stagnierenden Lebenswelt umgehen, der sollte online nachforschen: Ein Kunstprojekt sowie ein Independent Videospiel setzen sich künstlerisch anspruchsvoll mit der Unveränderlichkeit des Alltags auseinander.

Bei „It‘s Winter“ erlebt der Spieler den grauen russischen Winteralltag in einem Plattenbaugebiet. (Foto: steam/It’s Winter)

„Alles war für immer, bis es nicht mehr war“: Mit dieser Losung kanalisierte der russisch-US-amerikanische Anthropologe Alexei Yurchak in seinem gleichnamigen Buch von 2005 das Lebensgefühl der letzten sowjetischen Generation. Der tatsächliche Glaube an die Erfüllung der sozialistischen Utopie war in Jahrzehnten fruchtlosen Strebens verloren gegangen. Also richtete man sich ein im Zustand des permanent stagnierenden „Erreichen-Wollens“, erfüllte die öffentlichen Gesten, die ein guter Bürger zu erfüllen hatte, und fand in inoffiziellen Kreisen Strategien des ironischen Umgangs mit dem Leben in der Sackgasse. Bis die Sowjetunion nicht länger für immer, sondern nicht mehr war.

Von Stagnation können auch junge Russen heutzutage ein Lied singen. Nach den turbulenten 90er Jahren erlebte das Land in den 2000ern eine Zeit relativer Stabilität und wirtschaftlichen Wachstums. Seit 2014 geht es ökonomisch allerdings wieder bergab. Der Rubel sank auf einen Kurs von mittlerweile etwa 90:1 gegenüber dem Euro. Universitätsabsolventen reicht ihr Einstiegsgehalt oft nicht einmal, um von zu Hause auszuziehen und vor allem in kleineren Städten bröckelt die Infrastruktur stetig dahin. Aussicht auf Veränderung sehen viele nicht. Russen unter 21 Jahren haben selbst als Baby keinen anderen Präsidenten erlebt als Wladimir Putin.

Viele junge Menschen kennen nur Stagnation

Dieser Zeitgeist manifestiert sich nicht nur in den offenen politischen Protesten des letzten Jahres. Zunehmend wird das Internet zum Raum für teilweise groteske Aneignungen des gefühlten „Alles ist für immer“. Besonders betont: die Eintönigkeit des Lebens in den kleinen Städten abseits von Moskau, deren Ästhetik sich ideal eignet, um die Undenkbarkeit von Veränderung hervorzuheben. In dunklen Grautönen malen vor allem zwei herausragende Kunstprodukte das Russland des 21. Jahrhunderts: das Videospiel „It’s Winter“ (russisch „SCHCHD: Sima“) und das Online-Kunstprojekt SCHKJA.

In „It’s Winter“ findet sich der Spieler in einem der klassischen sowjetischen Wohnblöcke wieder, die noch heute das Stadtbild vieler russischer Kleinstädte prägen: fünf Stockwerke, bröckelnder grauer Putz, heruntergekommene Innenräume. Durch diesen tristen Mikrokosmos steuert man einen körperlosen Avatar durch ewige Tatenlosigkeit. Man kocht Eier, macht den Abwasch und duscht, hin und wieder interagiert man gar kurz mit der Außenwelt, indem man sich in den – ebenfalls ewigen – Winter hinauswagt, um den Müll rauszubringen oder Einkäufe zu erledigen. Handlung im klassischen Sinne erwartet man aber vergebens. Stattdessen erlebt man einen existentiell gleichförmigen Zustand, aus dem das Spiel keinerlei Ausweg bietet. Selbst ein Sprung aus dem Fenster hilft da nicht: Wer keinen Körper hat, der kann sich schließlich auch nicht das Genick brechen.

Eintönigkeit wird zum Kunstobjekt

Bei dem Spiel handelt es sich um nur einen Teil eines größer angelegten Projektes des Dichters Ilya Mazo. In einem Interview mit dem Online-Journal „The Village“ erklärt er den Zweck seines Projektes wie folgt: „Die Aufgabe des Spiels ist es, das Leben zu besingen. Alles daran ist eine buchstäbliche Abbildung meiner persönlichen Erfahrung. Meines Alltags und meiner Erinnerungen aus der Kindheit“. Mazo bildet eine alltägliche, gänzlich normale Tristesse ab, die in vielen russischen Städten nach wie vor an der Tagesordnung ist. Dabei erhebt sich sein Projekt aber in keiner Weise über seinen Gegenstand. Fernab von jeder Häme oder Belustigung akzeptiert „It’s Winter“ seine eigene traurige Atmosphäre. Gerade darin liegt die Qualität: Die Eintönigkeit des provinziellen Alltags wird zum Kunstobjekt, das auch den Bewohnern dieser grauen Räume Identifikation erlaubt.

Ganz ähnlich verhält es sich bei dem Online-Projekt SCHKJA (russisch für „Witze, cooles Zeug, Eidechsen“). Die Sache begann als kleine Gruppe auf VK, in der die Nowosibirsker Künstlerin Ewa Morosowa und einige Freunde lustige Videos, Comic-Strips oder Memes teilten – was das Internet eben hergibt. Nach kurzer Zeit wurde die Gruppe zur Plattform für Morosowas eigene Kunst. Mit Erfolg: Der VK-Seite folgen fast 330 000 Leute, die meisten von ihnen junge Russen. Außerdem bespielt Morosowa noch die Kanäle Instagram und YouTube. Hier sind es immerhin 113 000 beziehungsweise 268 000 Abonnenten. Allein an den Zahlen lässt sich bereits ablesen, dass Morosowa offenkundig den Zeitgeist trifft.

Figuren sind hässlich wie das Leben

In Memes, Cartoons und kurzen Zeichentrickfilmen entwirft SCHkJA eine gleichzeitig groteske und vertraute Welt. Deren Bewohner sind nicht gerade schön anzusehen, man könnte sagen, sogar eher hässlich. Sie haben dicke, unproportional geformte Körper, Münder mit starken Überbissen, schielende Augen und mal graue, mal überzeichnet rosa stechende Haut. Schönheit im klassischen Sinne ist für Morosowa offenbar uninteressant. Sie selbst scherzt in Anlehnung an den ersten Satz von Lew Tolstojs „Anna Karenina“: „Alle schönen Gesichter sind einander ähnlich, alle hässlichen Gesichter sind hässlich auf ihre Weise.“ Auch ihre Sprache ist begleitet von Schmatzen und rauschenden Störgeräuschen, die das zunächst groteske Bild komplettieren.

Diese seltsamen Figuren navigieren ihr Leben durch eine fast immer grau gezeichnete Welt: Sie sind umgeben von genau der gleichförmigen Umwelt, die auch Ilya Mazo in „It’s Winter“ besingt. Dabei steht oft die Eintönigkeit des Alltags im Zentrum, aus der nur wenige Auswege geboten sind. Sei es das liebevoll angeschmachtete Bierchen, die sich doch einmal kurz zeigende Sonne oder der Gedanke an die abendliche Fernsehserie, der den Nachhausweg aufhellt: Substantiell ist keine dieser Strategien. Trotzdem ist die Aufarbeitung dieser Realität vor allem von grandios subtilem Humor geprägt.

Realität wird traurig genau dargestellt

In einem der aktuellsten Clips steht ein junger Mann mit Frisur, die in ihrer Form an einen Fäkalienhaufen erinnert, in einem stechend grünen Hemd der Kamera gegenüber. Hinter seinem Rücken ist eine heruntergekommene Straße einer der typischen Mikrorajony, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind: bröckelig-grauer Putz an fünfstöckigen Mehrfamilienhäusern, aufgerissene Straßen, auf denen schmutzige alte Autos geparkt sind. Nur eine Spielplatzrutsche aus Plastik hellt das Bild etwas auf. „Wie langweilig alles ist“, seufzt der Held, bevor sein Blick nach rechts schweift. In grellen Neonfarben leuchtet dort ein riesiges Einkaufszentrum. In dessen Inneren spielt laute Elektromusik, Fast-Food-Ketten und Klamottenläden bieten dem jetzt mit offenem Mund staunenden Burschen eine kurze Ablenkung von der Tristesse seiner Stadt.

Trotz des traurigen Bildes muss man beim Ansehen unversehens lachen.
Morosowas Bild trifft die Lebensrealität junger Menschen in der russischen Provinz auf traurige Art genau. Viele Städte sind geprägt von grauer Alltäglichkeit, die nie zu vergehen scheint, Langeweile spricht schon aus dem Panorama. Farbige Punkte darin bilden tatsächlich oft nur die Neonschilder großer Shopping Malls, die dafür wie Pilze aus dem Boden sprießen. Auch die ändern allerdings wenig am existenziellen Grundgefühl der Unveränderlichkeit dieses Zustandes. Und so ist auch im nächsten Comic, Clip oder Meme alles wieder auf Anfang gedreht.
Mazos „It’s Winter“ und SCHKJA erheben dieses oft übergangene Lebensgefühl zum Gegenstand ihrer poetisch bemerkenswert hochwertigen Kunst. Anders als Dokumentationen oder Zeitungsreportagen über die Perspektivlosigkeit der russischen Provinz konzentrieren sie sich dabei gerade nicht auf die sozio-ökonomischen Probleme hinter den Bildern, die sie entwerfen.

Probleme werden nicht ignoriert

Das bedeutet nicht, dass gesellschaftliche Probleme ignoriert werden. Durch die poetische Bearbeitung Mazos und Morosowas werden aber digitale Räume geschaffen, in denen die Erfahrung vorwiegend junger Menschen in der Provinz als an sich valide gelten kann, ohne dass zwangsläufig gleich eine explizite politische Verortung stattfinden muss.
Insofern markieren beide Projekte ein Aufleben von Yurchaks Slogan „Alles war für immer, bis es nicht mehr war“.

Die Ästhetik des immer gleichen Alltags und seiner existenziellen Unveränderlichkeit, vor allem aber ihre Beliebtheit unter jungen Russen, hängt sicherlich mit den stagnierenden politischen Verhältnissen im Land und der Verschlechterung der Perspektiven der Jugend zusammen. SCHCHD Sima und SCHKJA finden jedoch eine Reaktion abseits von politischem Protest. Teils radikal direkt, teils grotesk überspitzt werten sie das Leben im „Alles ist für immer“ künstlerisch auf und bieten Repräsentationsflächen für große Teile der jungen Bevölkerung. Egal ob die auf das Ende dieses Zustands wartet, oder nicht.

Thomas Fritz Maier

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