Russische Künstler können kaum auf der Grundlage ihrer Position in der Verkaufsrangliste ihrer Gemälde beurteilt werden. Wenn es um Werke geht, die buchstäblich zum Kulturcode des Russen gehören, sollte man eher einen Blick auf die Sammlung der Tretjakow-Galerie werfen, wo alle Schulausflügler unweigerlich vor dem Gemälde „Die drei Recken“ von Viktor Wasnezow (1848–1926) landen. Für viele Russen verkörpert Wasnezow die russische Malerei. Seine Gemälde nach russischen Sagen und Märchen, „Aljonuschka“ (1881), „Der Recke am Scheideweg“ (1882) und andere sind Teil der Suche nach nationaler Identität, die sich in der gesamten russischen Kunst des späten 19. Jahrhunderts nachweisen lässt.
Aber das Eintauchen russischer Kinder in die Welt der Sagen sowie ihre Bekanntschaft mit den künstlerischen Darstellungen russischer Recken, der Kaufleute, ihrer schönen Töchter und allerlei märchenhafter Bösewichte beginnt lange vor einem Museumsbesuch. Die besten russischen Märchenbücher haben zweifellos Illustrationen von Iwan Bilibin (1876–1942). Seine Bilder faszinieren durch die präzisen, immer absolut verifizierten Linien. Wer die Bücher „Die schöne Wassilissa“ (1902) oder „Die Feder des Finist, des hellen Falken“ (1900) in den Händen gehalten hat, kann sich auf keine andere künstlerische Gestaltung russischer Märchen einlassen. Bilibins Illustrationen sind ihr Bestandteil, so wie bei Wilhelm Buschs „Max und Moritz“: Text und Bilder sind in diesem Buch nicht trennbar.
Die russischen Künstler ließen sich jedoch nicht nur von Märchen inspirieren. Wassili Surikow (1848–1916) malte Bilder zum Thema der russischen Geschichte. „Am Morgen der Hinrichtung der Strelizen“ (1881) und „Die Bojarin Morosowa“ (1887) gehören zum goldenen Fundus der russischen Malerei. Diese und andere Gemälde Surikows sind eine Art Studien zu einem bestimmten historischen und oft sehr dramatischen Moment.
Ein anderes Mitglied der Gruppe der „russischsten Künstler“, Michail Nesterow (1862–1942), suchte nicht nach Dramatik, sondern eher nach Seelenfrieden. Seine Rus ist religiös, orthodox, spirituell und sehr malerisch, wie in den Gemälden „Auf den Bergen“ (1896), „Heilige Rus“ (1906) und natürlich „Die Vision des Knaben Bartholomäus“ (1889). Nesterow versuchte buchstäblich, ein Bild seiner Heimat zu schaffen, und es scheint ihm gelungen zu sein.
Auch am Ende des 20. Jahrhunderts versuchten Maler, den Geist des heiligen Russlands auf ihren Leinwänden zu vermitteln. Ilja Glasunow (1930–2017) liebte alles Russische, sowohl das orthodoxe als auch das heidnische und war ein Kämpfer gegen die „jüdisch-freimaurerische Verschwörungstheorie“.
Wahrscheinlich hätte es ihm nicht gefallen, dass der Titel des „russischsten Künstlers“ auch an Vertreter anderer Nationalitäten vergeben werden könnte. Die Landschaften von Wassili Polenow (1844–1927) sind wunderschön, ebenso wie das ikonische Gemälde „Die Saatkrähen kehren zurück“ (1871) von Alexej Sawrassow (1830–1897). Für viele gibt es jedoch keine russischere Landschaft als die in dem Gemälde „Abendglocken“ (1892) von Isaak Lewitan (1860–1900), dem großen russischen Maler jüdischer Herkunft.
Igor Beresin