
Das Interesse an Daten über die nationale Zusammensetzung der Roten Armee und die Beteiligung verschiedener Nationalitäten an den Kampfhandlungen ist nicht neu, aber die Historiker und, was gefährlicher ist, die Politiker greifen dieses Thema regelmäßig auf.
Vor Kurzem hat „Die Zeit“ eine Serie von Publikationen mit dem Titel „Die großen Fragen unserer Zeit“ gestartet. In der ersten Folge sprach der Historiker Gerd Koenen über die Manipulierung historischer Daten und behauptete, dass nicht Russland, sondern Polen, die heutige Ukraine, Belarus und natürlich die Juden als ethnische Gruppe den größten Schaden durch die Kriegsverbrechen Hitlerdeutschlands erlitten haben. Leider erklärte der Historiker nicht, wie dieser Schaden gemessen wurde: in verlorenen Menschenleben, in der Zahl der zerstörten Siedlungen oder in anderen Verlusten.
Nationale Einheiten in der Roten Armee
Eine Klärung würde nicht schaden, obwohl manche Erläuterungen die Situation nur noch schlimmer machen können. Dies war 2015 der Fall mit dem polnischen Außenminister Schetyna, der behauptete, ukrainische Soldaten hätten Auschwitz befreit, weil es sich um die Erste Ukrainische Front handelte. Eine recht absurde Erklärung: Die Frontbenennungen weisen keineswegs auf die Nationalitäten hin.
Allerdings gab es in der Roten Armee auch nationale Militäreinheiten. Es ist nicht schwer, Informationen über litauische, estnische, armenische, aserbaidschanische, usbekische und andere Gewehrdivisionen zu finden, die nach dem nationalen Prinzip organisiert waren. Doch bereits 1938 wurden alle nationalen Einheiten der Roten Armee aufgelöst.
Russen zählen (un)gern
Nicht alle in Russland messen den Beitrag dieser oder jener Nationalität zum Verlauf des Zweiten Weltkriegs mit objektiven Daten. Allein der Gedanke, die Rotarmisten nach Nationalitäten aufzuteilen, sorgt für Unstimmigkeiten. Schließlich hat Hitlerdeutschland die Sowjetunion angegriffen, und das sowjetische Volk hat den Feind bekämpft. Sollten die Verteidiger des Vaterlandes in irgendeiner Weise geteilt werden? Darüber hinaus akzeptieren nicht alle die Berechnungsmethode: Einige Studien beruhen auf der Methode der Datenextrapolierung. Nicht jeder ist damit einverstanden. Dennoch haben Forscher dieses Thema untersucht, und man kann die Ergebnisse dieser Arbeit nicht ignorieren.
Pure Zahlen
In seinem Werk „Die nationale Zusammensetzung der Roten Armee 1918–1945“ gibt Alexej Besugolny eine Antwort auf die Frage über die Vertretung verschiedener Nationalitäten in den Kampfeinheiten. So blieb der Anteil der Russen in der Roten Armee während des Krieges mehr oder weniger konstant bei etwa 60 Prozent, mit einem deutlichen Anstieg auf 70 Prozent in den Jahren 1942 bis 1944. Auch der Anteil der Ukrainer (etwa 20 Prozent) und Belarussen (etwas mehr als vier Prozent) in der Armee blieb stabil. In den Jahren 1942 bis 1944 stellten die besetzten Gebiete jedoch keine Kämpfer für die Rote Armee, und der Anteil der Ukrainer sank in diesen Jahren auf etwa 11 Prozent, der der Belarussen auf zwei Prozent. Und so zeichnet Alexej Besugolny die Dynamik für alle ethnischen Gruppen nach, die in der Sowjetunion lebten.
Ostslawen
Was kann hier schon schiefgehen? In den sozialen Netzwerken kursieren gut gestaltete Bilder mit Statistiken aus der Studie von Besugolny. Doch der Teufel steckt wie immer im Detail. Auf der Folie „Beitrag der Russen (Ostslawen) zum Großen Vaterländischen Krieg“ werden drei slawische Völker unter einem einzigen Namen vereint – Russen. Der Text der Folie stellt außerdem Slawen und Nicht-Slawen einander gegenüber. Nicht ohne Stolz betonen die Verfasser dieser Blätter, dass während des Krieges Russen aus den nationalen Republiken, deren Hauptbevölkerung nicht der Wehrpflicht unterlag, zur Armee eingezogen wurden.
Gesamtbild
Kaum jemand mit klarem Verstand würde die Verdienste der russischen Soldaten der Roten Armee im Kampf gegen Nazideutschland herunterspielen. Aber es ist notwendig, die ganze Wahrheit zu kennen. Alexej Besugolny erklärt, wieso einige Nationalitäten an der Front so gut wie keine Vertretung hatten. Ganz einfach: Eine Reihe von Volksgruppen, die in der Sowjetunion lebten, wurden als unzuverlässig eingestuft. Die Deutschen wurden aus der Wolgaregion deportiert und aus den Reihen der Roten Armee entfernt, ebenso wie die Vertreter „ausländischer“ Nationalitäten: Polen, Griechen usw. Die Wehrpflichtbeschränkungen betrafen auch die nordkaukasischen Völker, eine Tatsache, die laut Besugolny später „bei den Entscheidungen über die Ausweisung einer Reihe von als ‚verräterisch‘ eingestuften Völkern berücksichtigt wurde“. Die Geschichte Russlands lässt sich nur schwer in ein paar Slides unterbringen, und es ist gefährlich, sie für irgendwelche zweifelhaften Zwecke zu instrumentalisieren.
Igor Beresin