Es begann mit einer staubigen Großbaustelle und dem Versprechen geräumiger Wohnungen und stabiler Löhne: Mitte der 60er Jahre stampften die Sowjets an einer weiten Wolgaschleife in Zentralrussland eine der größten Autofabriken des gesamten Ostblocks aus dem Boden. In nur wenigen Jahren entstanden Werkshallen, Montagegebäude und Produktionsstätten, die schließlich eine riesige Fläche von rund sechs Quadratkilometern bedeckten. Arbeiter aus dem gesamten Land zogen für begehrte Jobs nach Toljatti und ließen die Anwohnerzahl von 100 000 auf rund 700 000 Menschen anwachsen.
Städte in der Krise
Doch nach dem Ende der Sowjetunion ging es mit der riesigen Autostadt bergab. Die Fabrik war nicht konkurrenzfähig. Die meisten Arbeiter wurden entlassen, eine neue Beschäftigung fand der Großteil nicht mehr. Denn Toljatti ist eine Monostadt – die größte in Russland. Entstanden um einen einzigen Großbetrieb sind diese Städte meist besonders anfällig für wirtschaftliche Krisen und Konjunkturschwankungen. Das hat auch die russische Regierung erkannt – und steuert gegen. Umgerechnet rund 2,2 Milliarden Euro sollen im Zeitraum zwischen 2019 und 2024 in die wirtschaftlich einseitig geprägten Städte fließen, geht aus einem kürzlich vorgestellten Regierungsprogramm hervor. Vor allem der Ausbau der lokalen Infrastruktur soll vorangetrieben und die Wirtschaft der Städte diversifiziert werden, um Abwanderung und Verfall zu stoppen. Die Initiative ersetzt ein Vorgängerprogramm, das vor allem auf Gewerbeparks in den Städten setzte. „Ich habe nicht das Gefühl, dass dieses Programm effektiv war“, erklärte dazu Alexej Kudrin, Vorsitzender des russischen Rechnungshofes.
Orte vom Reißbrett
Ob das neue Vorhaben aber tatsächlich die lang ersehnte Wende bringt, bleibt abzuwarten. Den regelmäßig aufgelegten Rettungsprogrammen der Regierung waren bisher nur mäßige Erfolge beschieden. Doch wie kam es überhaupt zur Gründung der Monostädte? Entworfen wurden sie ab den 1930er Jahren zumeist am Reißbrett. Damals befand sich die Sowjetunion in einer Phase der Industrialisierung, überall im Land entstanden Kombinate, Hochöfen und Werke zur Verarbeitung von Öl, Kohle und anderen Rohstoffen. Die Wohnungen für die Arbeiter ließen die sowjetischen Städteplaner meist in direkter Nähe der Anlagen errichten. Hunderttausende fanden so ein Zuhause, über 400 Städte entstanden im ganzen Land. Lange bildeten sie das Rückgrat der sowjetischen Wirtschaft und erwirtschafteten zeitweise bis zu 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Giganten im Niedergang
Doch mit dem Zusammenbruch des Kommunismus zeigte sich die schwache Seite der sowjetischen Industriegiganten. Viele schafften den Anschluss an den Kapitalismus nicht. In der Folge gerieten die dazugehörigen Städte in eine sich immer schneller drehende Abwärtsspirale aus Abwanderung, hoher Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung und einer zusammenbrechenden Gesundheitsversorgung. Nun rächte sich auch, dass vielerorts Wärme- und Stromversorgung direkt an die Betriebe gekoppelt waren. Gerieten diese in die Krise, wurde es bei vielen Russen kalt.
Der Kreml greift ein
Die Regierung machte die Rettung der Monostädte erst relativ spät zur Chefsache. Präsident Wladimir Putin erklärte 2014 die Diversifizierung und Modernisierung zu einem wichtigen Ziel und gründete die Stiftung zur Entwicklung der Monostädte, welche seitdem Programme zur Entwicklung der Städte ausarbeitet, Investitionen anschiebt und geeignetes Personal ausbildet. Heute gibt es in Russland noch 319 Monostädte, in denen 13,5 Millionen Menschen leben, geht aus Daten der Statistikbehörde Rosstat hervor. Dies entspricht einem Zehntel der russischen Bevölkerung. Ein Drittel der in die Jahre gekommenen Industriestandorte befinde sich mittlerweile in einem besonders kritischen Zustand, heißt es weiter bei Rosstat. Die meisten Monostädte (24) befinden sich in der westsibirischen Region Kemerowo.
Birger Schütz