Dicht gedrängt steht die Besuchergruppe auf einem Gittersteg in der Hochofenhalle, in sicherer Entfernung zum Geschehen. Ein bissiger, rauchiger Geruch liegt in der Luft, als mit einem riesigen Bohrer das Spundloch des Hochofens geöffnet wird. Die Arbeiter am Boden treten zurück. Funken sprühen meterhoch, das flüssige Roheisen fließt durch eine Rinne am Boden. Die Hitze ist bis auf den Steg spürbar. Abstich nennt sich dieser Vorgang in der Sprache der Stahlkocher.
Seit Herbst 2018 hat das Stahlwerk in Magnitogorsk seine Pforten für Touristen geöffnet. Mit einer Jahresproduktion von über zwölf Millionen Tonnen Stahl und rund 18.600 Mitarbeitern gehört das Magnitogorsker Metallurgiekombinat zu den größten Stahlkonzernen Russlands. Über 100 Quadratkilometer ist das Werksgelände groß, bei Tag erstrecken sich Rauch- und Dampfsäulen in den Himmel, bei Nacht ist der Feuerschein der Gasfackeln weithin zu sehen.
Nahezu alle Sorten an Stahl werden hier produziert, zum Beispiel für die Tscheljabinsker Röhrenwerke (TschTPS), deren Produkte bei der Pipeline „Nord Stream 2“ verbaut werden. „Das Feuer zähmen“ nennt sich die Werkstour, bei der Interessierte neben dem Hochofen auch ein modernes Walzwerk für Grobbleche zu Gesicht bekommen. Dort können sie beobachten, wie glühende Stahlbrammen aus der Gießanlage gefördert werden und mit kaum vorstellbarer Kraft zu Blech gewalzt werden.
Sergej, der Leiter der Werkstour, erzählt dass die Anlage 2009 von der deutschen Firma SMS Siemag AG, heute SMS Group, gebaut wurde. Das hat eine lange Tradition. Schon 1932 hat das Düsseldorfer Unternehmen Walzwerke nach Magnitogorsk geliefert.
Eine sozialistische Stadtgründung
Damals befand sich die ganze Stadt noch im Aufbau. Sie entstand ab 1929 überhaupt erst wegen der Eisenerzvorkommen, die ihr auch ihren Namen gaben. „Stadt am Magnetberg“ heißt sie übersetzt. Die Einwohner nennen sie liebevoll „Magnitka“.
Das Projekt zur Anlage der Stahlstadt war Teil des ersten Fünfjahresplans zur Industrialisierung der Sowjetunion. Experten aus den USA, Großbritannien und Deutschland waren an den Planungen für die Stadt und das Werk beteiligt, unter anderem der Frankfurter Architekt und Stadtplaner Ernst May.
Die ersten Entwürfe sahen kurze Wege zwischen Produktions- und Wohnstätten vor. Allerdings war mit dem Bau des Stahlwerks schon begonnen worden, bevor die Planung fertig war.
Auf der linken Flussseite blieb schließlich nicht mehr genug Platz, um die Stadt wie vorgesehen anzulegen. Der Großteil der Wohnbebauung befindet sich heute rechts des Flusses. Für die Einwohner brachte das letztlich den Vorteil, dass sie weiter von den Schornsteinen des Werks entfernt leben.
Treffpunkt Europas und Asiens
Nach Ernst Mays Vorstellungen sollten Wohngebäude im Stil der Moderne entstehen. Wer jedoch heute durch das Stadtzentrum von Magnitogorsk geht, wird davon wenig bemerken. Noch im Entstehungsprozess der Stadt geriet die moderne Architektur in der Sowjetunion in die Kritik, es brach die Ära des „Stalin-Klassizismus“ an.
Von den modernen Wohnquartalen des deutschen Architekten wurde nur eines fertiggestellt und ein weiteres begonnen. Die Innenstadt ist dagegen geprägt von prunkvollen Bauten des Sozialistischen Klassizismus.
Da der Ural hier gemeinhin als die innereurasische Grenze gilt, bezeichnet sich Magnitogorsk gerne als „Treffpunkt Europas und Asiens“ und kann dadurch mit einer „interkontinentalen“ Straßenbahn aufwarten. Ein entsprechendes Schild auf einer der vier Brücken über den Fluss markiert die symbolträchtige Stelle.
„Hinterland der Front“
Eine tragende Rolle spielte Magnitogorsk für den sowjetischen Sieg über Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Jeder zweite Panzer und jedes dritte Geschoss soll aus hiesigem Stahl entstanden sein. – So steht es an einem Panzerdenkmal am Siegesplatz zu lesen. „Hitlergrab“ soll der Erzberg daher damals im Volksmund genannt worden sein.
In Erinnerung an diese Hilfe entstand 1979 das Denkmal „Hinterland der Front“ oberhalb des Flussufers. Es zeigt einen Schmied, der einem Soldaten ein Schwert überreicht, der Soldat blickt entschlossen gen Westen – in Richtung der Front. Die 15 Meter hohen Skulpturen sind eines der Wahrzeichen der Stadt.
Auf den Kühlschrankmagneten im Souvenirgeschäft ist hier kein Kreml zu sehen und kaum eine Kirche. Außer dem Siegesdenkmal finden sich Motive mit Arbeitern und glühendem Stahl oder mit den rauchenden Schloten der Industriekulisse. Der örtliche Eishockeyverein heißt „Metallurg“. Das Stahlwerk prägt die Identität Magnitogorsks.
Jiří Hönes