Leipziger Wende: Russische Eindrücke aus der DDR

Boris Bujanow wohnte seit über drei Jahren in Leipzig, als am 9. November 1989 die Mauer fiel. Darüber, wie ein Russe die Wende im realsozialistischen Deutschland erlebte.

Boris Bujanow hat in Sachsen
ein neues zu Hause gefunden. © Privat

Lange hatte Boris Bujanow, geboren im südöstlich von Moskau gelegenen Woskressensk, nicht damit gerechnet, dass sich etwas in der DDR bewegen würde. Mit der Grenzöffnung zwischen Ungarn und Österreich im Sommer 1989 änderte sich das schlagartig. In ihr sieht der 59-Jährige heute einen „Katalysator“ für das, was folgen sollte. Vor der Leipziger Polizeistelle bildeten sich lange Schlangen: „Plötzlich wollten alle nach Ungarn“, erinnert sich Bujanow. Zusammen mit seiner deutschen Frau, deretwegen es ihn überhaupt erst nach Leipzig verschlagen hatte, reiste er in die Sowjetunion: „Als wir dann im September zurückkamen, habe ich bemerkt, dass sich in der kurzen Zeit ziemlich viel verändert hat.“

An der Universität Leipzig war der studierte Journalist Bujanow damals als Russischlehrer tätig. Nach und nach fiel ihm auf, wie sich in seinen Seminaren die Reihen lichteten: „Manche waren schon im Westen, manche schon in irgendwelchen Botschaften im Ausland und andere wiederum waren zum Dienst als Straßenbahnfahrer abgefordert worden“. Der Bevölkerungsschwund hatte die Regierung zu außergewöhnlichen Maßnahmen gezwungen. Der öffentliche Verkehr musste am Laufen gehalten werden.

Bei den aufkommenden Protesten in der DDR spielte Leipzig eine Vorreiterrolle. Während der dortigen Massendemonstrationen am 9. Oktober entschied sich, dass wir heute von einer friedlichen Revolution sprechen können. „Das ist für mich die Wende gewesen“, erklärt Bujanow nicht ohne Stolz auf seine Wahlheimat. „Ab diesem Zeitpunkt war klar: Es wird etwas passieren, aber es wird nicht geschossen.“ Der anschließende Mauerfall in Berlin sei hingegen „nur die Folge“ gewesen, ist sich Bujanow sicher. Umso erträglicher, dass ein Fieber von 40 Grad den Russen ans Bett fesselte, als in der jetzigen Hauptstadt Deutschlands der graue Grenzwall eingerissen wurde.

„Nach dem Mauerfall war ja erst einmal noch keine Rede von der Wiedervereinigung“, erinnert sich Bujanow. Was der Sowjetbürger in der Grenzöffnung sah, war ein Echo auf die neuen Reformen in seiner Heimat: „In der DDR war wirklich alles, was Gorbatschow Richtung Perestroika und Glasnost gemacht hat, tabuisiert. Man hat gemerkt: Aha, jetzt ist so etwas auch hier möglich geworden. Man hat das als eine Weiterführung dieses neuen Denkens begriffen.“ Bujanow hoffte auf ungekannte Reisefreiheiten, auf die Legalisierung verbotener Bücher und Zeitschriften, darauf, dass man bald so frei wie in der Sowjetunion reden könne.

Unter die guten Aussichten mischten sich aber auch Befürchtungen: „Wir waren Ausländer mit Aufenthaltsgenehmigung für die DDR und natürlich haben wir uns Sorgen gemacht. Denn es war nicht
klar, was mit uns passieren wird.“ Nach der Wende verlor Bujanow seinen Job. Heute arbeitet er als Sozialarbeiter in Leipzig – und unterrichtet daneben auch wieder. An einer Rückkehr in sein Heimatland hat der Russe kein Interesse. Das Land habe sich mittlerweile zurückentwickelt.

Patrick Volknant

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