Zwölf Jahre war Karl von Baumgarten Bürgermeister von Kostroma, von 1816 bis 1828. Ein sogar in Regierungskreisen hoch angesehener Mann – Geheimer Regierungsrat und Generalmajor. Ohne ihn sähe das Stadtzentrum heute anders aus. Baumgarten sorgte dafür, dass Kostroma einen anständigen Feuerwachturm bekam. Dieser sollte einerseits der Sicherheit, aber auch der Verschönerung der Stadt dienen, schrieb er in einer Anweisung – und wählte den Standort selbst aus: Der Turm wurde direkt am zentralen Platz von Kostroma errichtet, der heute Sussanin-Platz heißt. Er zählt zu den markantesten Bauten in der gesamten Stadt und wird von allen Sehenswürdigkeiten wohl am meisten fotografiert.
Ein Bürgermeister als Baumeister
Aber in die Amtszeit des deutschstämmigen Bürgermeisters fielen noch weitere Baumaßnahmen, die das Gesicht der Stadt veränderten und bis heute prägen. Er ließ den Weg, der von der Anlegestelle an der Wolga über die Milchbergstraße nach oben zum Sussanin-Platz führt und die Augen von Einheimischen wie Gästen erfreut, neu gestalten. Außerdem entstanden unter ihm die Gemüsereihen (später Tabakreihen) als Teil der Handelsarkaden, die in Kostroma so gut erhalten sind wie kaum irgendwo sonst in Russland. Und er ließ den Sussanin-Platz mit Kopfsteinpflaster versehen.
Ein weiterer Deutscher, der in Kostroma Geschichte geschrieben hat, war Karl Haken. Der Pharmazeut machte die Provinzstadt und ihre Einwohner mit den neuesten Errungenschaften der Arzneikunde bekannt. Auf der Bogoslowskaja-Straße (heute Gornaja) schuf er 1788 eine Einrichtung für die Herstellung und den Verkauf von Medikamenten – die erste Apotheke der Stadt, der Haken weitere folgen ließ. Das Holzhaus steht noch immer und wird als normales Wohnhaus genutzt. Seine Bedeutung ist ihm nicht anzusehen, die Bewohner wissen jedoch um die Rolle, die das Gebäude gespielt hat.
Der Apotheker, der alles selbst machte
Haken machte sich in seiner Eigenschaft als Apotheker allerdings noch zusätzlich verdient. Er legte einen ersten botanischen Garten in Kostroma an und belieferte sich damit sozusagen selbst, indem er auf dem Gelände Arzneipflanzen züchtete. So konnte jeder, der das wollte, den Ursprung der Medikamente aus der Nähe betrachten. Leider ist dieser denkwürdige Ort auf der Sergijewskaja-Straße (heute Krasnoarmejskaja) heute auf keinem Stadtplan mehr zu finden und selbst Einheimische zucken auf Nachfrage mit den Schultern. „Wir haben unser gesamtes Leben hier verbracht und noch nie von einem botanischen Garten in der Stadt gehört“, sagt ein mittelaltes Paar.
Ganz anders verhält sich das mit einer Episode der Stadtgeschichte aus dem Jahre 1767. Zarin Katharina die Große besuchte damals Kostroma während einer rund einmonatigen Wolga-Reise. Die frühere deutsche Prinzessin hatte fünf Jahre zuvor den russischen Thron bestiegen, nun wollte sie ihr Land kennenlernen.
Die Flottille der mächtigen Regentin legte, aus Jaroslawl kommend, am 14. Mai am Ipatjew-Kloster von Kostroma an, das gern als Wiege der Romanow-Dynastie bezeichnet wird, die Russland von 1613 bis 1917 regierte. Von hier war gut anderthalb Jahrhunderte vor dem Besuch Katharinas der erst 16-jährige Michail Romanow ins 300 Kilometer entfernte Moskau aufgebrochen, um sich zum Zaren krönen zu lassen.
Das Stadtwappen huldigt der Zarin
Die „Große“ hielt sich kaum zwei Tage in Kostroma auf. Doch sie hinterließ einen bleibenden Eindruck. Als Katharina erfuhr, dass die Stadt kein Wappen hat, wurde umgehend eines in Auftrag gegeben. Es zeigt die Galeere „Twer“, mit der die Zarin damals auf der Wolga unterwegs war, und hat auch heute Gültigkeit. Der Legende zufolge verdankt Kostroma dem damaligen Staatsoberhaupt zudem den charakteristischen Grundriss seines Stadtzentrums. Während viele andere Städte im Schachbrettmuster angelegt sind, gehen hier die Straßen strahlenförmig vom Sussanin-Platz ab. Katharina soll ihren Fächer auf den Stadtplan geworfen und befohlen haben, so zu bauen. Besonders aus der Vogelperspektive ist die Fächerform gut zu erkennen. Doch wie viel an der Legende dran ist – man weiß es nicht.
Was dagegen feststeht: Auch im 20. Jahrhundert haben Russlanddeutsche eine nicht zu unterschätzende Rolle in vielen Bereichen des Lebens von Kostroma gespielt. Noch vor der Revolution trugen Mediziner Familiennamen wie Mehl, Orglert oder Kawer. Der Chef der Gendarmerie war Oberst Ernst, für den Kampf gegen Trunksucht zeichnete Bertram Zoppe verantwortlich. In sowjetischer Zeit waren der Leiter der Weberei im Lenin-Textilkombinat Stahlberg, der Journalist Blank und der Heimatforscher Althausen stadtbekannt.
Warwara Rjabowa
Ohne Kirche, mit Stolz: Wie die deutsche Minderheit ihre Identität wahrt
In der Region Kostroma, die ungefähr doppelt so groß ist wie Brandenburg, leben heute offiziell 682 Familien deutscher Herkunft. In Kostroma selbst mit seinen knapp 280.000 Einwohnern gibt es ungefähr 1000 Russlanddeutsche. Eine 2002 gegründete Organisation kümmert sich um die Wahrung von Sprache, Kultur und Traditionen.
Die deutsche Großmutter von Natalia Wassilenko lebte bis zum Zweiten Weltkrieg in Leningrad. Als die Deutschen die Stadt belagerten, wurde sie mit ihrer Familie evakuiert und kam nach Kostroma. Aus Furcht vor Konsequenzen verheimlichte sie bis zuletzt ihre deutsche Herkunft, ließ erst nach der Geburt von Wassilenkos Vater die entsprechenden Dokumente neu ausstellen. „Bis ins hohe Alter bewahrte sie sich ihre bezaubernden Manieren und sprach fließend Deutsch“, sagt Natalia über ihre Großmutter. „Ich erzähle meinen Kindern oft von ihren Vorfahren. Mein älterer Sohn will Fremdsprachen studieren – und zwar Deutsch. Dem kleinen Sohn lese ich oft deutsche Märchen vor, er mag sie sehr.“
Natalia Wassilenko ist Vorsitzende der Vereinigung der Russlanddeutschen in Kostroma. Die Organisation nennt als ihre Hauptziele die Erhaltung, Pflege und Nutzung der deutschen Sprache, der nationalen Kultur, der Bräuche und Traditionen der Minderheit.
In der Kirche wird Sport getrieben
Unter den Mitgliedern sind auch Lutheraner, die der lutherischen Gemeinde angehören, die seit mehreren Jahrhunderten in der Stadt existiert. Nur eine Kirche haben sie nicht mehr. Die schöne evangelisch-lutherische Kirche im neogotischen Stil unweit von der Stadtmitte wurde unter der Sowjetmacht geschlossen und ihr Kirchturm abgerissen. Nach dem Krieg zog in das verstümmelte Gebäude der Kinder- und Jugendsport ein. In den 1960er Jahren folgte ein kompletter Umbau, der von der ursprünglichen Form endgültig nichts mehr übrig ließ.
Die Gemeinde besucht an wichtigen religiösen Festen Kirchen in Jaroslawl oder in Moskau, manchmal lädt sie auch Pfarrer von außerhalb zu sich ein. Man hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass eines Tages die eigene Kirche wiederaufgebaut wird und man den Glauben auch künftigen Generationen weitervermitteln kann.
Die Russlanddeutschen von Kostroma pflegen ihre Kontakte nach Deutschland. Einer, der beide Heimatländer in seinen Werken verbindet, ist der Maler Jürgen Nickel. In seinen Bildern verschmelzen russische Natur und deutsche Herrenhäuser. Er malt auch viele deutsche Landschaften. Am bekanntesten ist seine Reihe „Das gute alte Deutschland“.
Von Kostroma nach Alexandrowka
Jewgenij Flehman, Leiter des Lehrstuhls für Geschichte an der Staatsuniversität Kostroma, hilft den Russlanddeutschen, ihre Wurzeln nicht zu vergessen. Er hat viel über die Geschichte von deutschen Einwanderern recherchiert und mehr als 20 Broschüren und Bücher veröffentlicht, die der Rolle der Russlanddeutschen in Kostroma gewidmet sind. Auch hat er ein Thema erforscht, dass davor kaum Beachtung fand, nämlich die Übersiedlung von Russen aus dem Gebiet Kostroma in die russische Kolonie Alexandrowka, die heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gezählt wird und sich im Norden von Potsdam befindet.
Zu Sowjetzeiten hätten die Russlanddeutschen in der Gesellschaft mitunter Ablehnung und Vorurteile erfahren, so Natalia Wassilenko. Heute fühle man sich respektiert und unterstützt. „Wir sind stolz auf unsere Herkunft“, sagt sie.
Warwara Rjabowa
Zum Beispiel die Reichs: Von St. Petersburg über Kasachstan nach Kostroma
Viele Russlanddeutsche träumen davon, ihre Familiengeschichte zurückverfolgen zu können. Denn es hat sie teilweise an die unwahrscheinlichsten Orte verschlagen, oft unfreiwillig. Wjatscheslaw Reich ist es gelungen, seinen Familienstammbaum mit Namen und Gesichtern zu füllen.
Wjatscheslaw Reich war acht Jahre alt, als er zum ersten Mal wissen wollte: Wo kommen wir eigentlich her? Gewiss, er war in Kasachstan geboren, aber wie war seine Familie wohl dort hingeraten? Und welchen Weg durch Russland hatten seine Vorfahren genommen, nachdem die ersten von ihnen dem Ruf von Katharina der Großen gefolgt waren, die um deutsche Siedler warb, um bis dato weitgehend menschenleere Landstriche zu bevölkern und zu bewirtschaften?
Heute ist Reich 71 Jahre alt. Er war 14 Jahre stellvertretender Bürgermeister von Kostroma, leitete später die Verwaltung des Landkreises. Und er hat 15 Jahre lang Informationen zusammengetragen, bis er die Geschichte seiner Familie rekonstruiert hatte, angefangen von der Einwanderung unter Katharina.
Die ersten deutschen Siedler gelangten damals in der Regel über die Ostsee nach St. Petersburg. Von dort ging es für die meisten weiter, vor allem in die Steppengebiete an der Wolga. So wurden sie zu Wolgadeutschen. Andere blieben in St. Petersburg. Und so war auch Wjatscheslaw Reichs Vater Gottlieb ein Petersburger – oder Leningrader, wie man zu Sowjetzeiten sagte. Zunächst Komsomolze, trat er später der Kommunistischen Partei bei und war sogar bei der Beerdigung von Sergej Kirow anwesend, der als Leningrader Parteichef 1934 einem Attentat zum Opfer fiel.
Nach Beginn des Großen Vaterländischen Krieges wurden die Sowjetdeutschen auf Geheiß Stalins aus dem europäischen Teil Russlands in entlegene Gegenden hinter dem Ural umgesiedelt. So landeten die Reichs in Kasachstan und viele Jahre später in Kostroma. Heute ist die Verwandtschaft von Wjatscheslaw Reich in alle Welt verstreut. Einige leben in den unterschiedlichsten Ecken Russlands, manche sind in den 1990er Jahren nach Deutschland gegangen, darunter sein Bruder. Für Reich spielt die Nationalität keine vordergründige Rolle. Aber er findet, dass man seine Geschichte kennen sollte. „Nur wer die Erinnerung an seine Vorfahren bewahrt, der fühlt auch die Verantwortung für die Zukunft.“
Warwara Rjabowa