Karlsbad vermisst seine russische Klientel

Die Heilquellen von Karlsbad bewirken wahre Wunder. Niemand wusste das mehr zu schätzen als die Russen. Doch die sind nicht mehr da. Das ist ein Problem, denn westliche Gäste schwören auf Wellness, nicht auf Kur.

Karlsbad aus dem Flugzeugfenster. Rechts im Bild das Fünf-Sterne-Hotel Imperial. (Foto: Tino Künzel)

Vielleicht wäre ohne Peter den Großen alles ganz anders gekommen. Der Zar, der Russland für Europa öffnen wollte und Europa für Russland, besuchte auf seinen Reisen in den Westen auch Orte, die für ihre Heilquellen bekannt waren, und machte sie damit noch bekannter. 1711 und 1712 weilte er zweimal in Karlsbad. Nachdem der russische Reformer sich von der wohltuenden Wirkung der Wässerchen am eigenen Leibe überzeugt hatte, hob er 1719 in Karelien den ersten Kurort von Russland aus der Taufe.

In den Jahrhunderten danach tat es dem Imperator gleich, wer es sich leisten konnte. Herrscher­familien, die Schönen und Reichen, Dichter und Denker fuhren nicht einfach in den Urlaub. Es war Sitte, sich einen Kuraufenthalt pro Jahr zu gönnen, und sei es zur allgemeinen Stärkung. Die Krim und die kaukasischen Mineralbäder zählten zu den beliebtesten Zielen, aber auch Orte im Ausland wie Baden-Baden und Karlsbad. In Karlsbad wurde nicht umsonst bereits am Ausgang des 19. Jahrhunderts die russisch-orthodoxe Kirche St. Peter und Paul gebaut.

Selbst die sowjetischen Landesherren rüttelten nicht an diesen Traditionen, sondern lebten sie sogar vor. Und sie ließen überall im Land Sanatorien errichten, wo sich das gemeine Volk aufpäppeln lassen konnte. Auch wenn es dort eher spartanisch als mondän zuging.

„Karlsbad kannte jeder“

Als Soňa Bízková, die seit vielen Jahren Reiseleiterin in Karlsbad (auf Tschechisch Karlovy Vary) ist, noch studierte, da war sie gelegentlich in der Sowjetunion und bekam eine erste Ahnung von dieser innigen Beziehung der Russen zu Kuren und Kurorten. „Wenn ich gesagt habe, dass ich aus Karlsbad bin, waren die Leute sprachlos“, erzählt sie. „Nicht alle wussten, dass Prag die Hauptstadt der Tschechoslowakei ist, aber Karlsbad kannte jeder.“

Nur Auserwählten war es zu Sowjetzeiten vergönnt, Karlsbad mit eigenen Augen zu sehen. Doch als sich die Grenzen in den 1990er Jahren öffneten und den Russen plötzlich die Welt offenstand, da wurde die Perle des Böhmischen Bäderdreiecks förmlich überrannt. Das kann man nun niemandem verdenken. Tschechiens größter Kurort mit seinen zwölf anerkannten Thermalquellen, seiner Lage mitten in einer grünen Hügellandschaft, seiner zauberhaften Innenstadt mit Bauten vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert, mit seinem Grandhotel Pupp und den berühmten Schnabeltassen steht natürlich längst nicht nur im fernen Russland hoch im Kurs. Seit 2021 gehört er sogar zum Weltkulturerbe. Goethe, der 13 Mal nach Karlsbad reiste, dichtete einst: „Was ich dort gelebt, genossen. Was mir all dorther entsprossen. Welche Freude, welche Kenntnis. Wär ein allzu lang Geständnis! Mög es jeden so erfreuen. Die Erfahrenen, die Neuen!“

Russisch als das neue Deutsch

Historisch wurde in der Stadt mit ihren heute knapp 50.000 Einwohnern überwiegend Deutsch gesprochen. Lange gehörte sie zu Österreich-Ungarn, dann, als in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten, zum „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“. Bis zu ihrer Vertreibung als Folge des Zweiten Weltkriegs stellten Sudetendeutsche 95 Prozent der Bevölkerung.

Doch das Deutsche und selbst das Tschechische wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten zunehmend von Russisch verdrängt. Nach Schätzungen hatte irgendwann die Hälfte der Immobilien im Zentrum russische Besitzer. Restaurants, Juweliere, Apotheken – alles bekam russischsprachige Schilder. Und die russischen Kurgäste strömten in Scharen nach Karlsbad, als wollten sie nun endlich nachholen, was ihnen früher entgangen war. Sie kurierten drei Wochen und mehr ihre Wehwehchen aus oder setzten auf Prophylaxe. 20.000 sollen es in den 2010er Jahren jährlich gewesen sein, die mit Abstand größte Gruppe. Der Kurbetrieb florierte.

Die Einheimischen verfolgten diesen Ansturm mit gemischten Gefühlen. Gerade in der Anfangszeit standen die Russen im Ruf, ungehobelt zu sein und zu meinen, sie könnten sich mit ihrem Geld alles erlauben. Außerdem wirkte nach, dass viele Tschechen ein gespaltenes Verhältnis zur Sowjetunion haben, deren Einflussbereich sie gern früher entkommen wären. Aber die Gruselgeschichten über die neureichen Russen, die sich nicht benehmen können, wurden nach und nach weniger. Man kam sich näher, arrangierte sich. „Sie haben ja vielen hier Arbeit verschafft“, sagt Reiseleiterin Bízková.

Das Ende des Booms

Die „russische Hauptstadt von Tschechien“ wurde Karlsbad noch bis vor Kurzem scherzhaft-spöttisch genannt. Doch mit der Zuspitzung des Ost-West-Konflikts nach dem Krim-Coup 2014 und der Verhängung von Sanktionen setzte ein schleichender Abwärtstrend ein. Als russische Truppen 2022 in die Ukraine einmarschierten und sich auch Tschechien demonstrativ an die Seite Kiews stellte, ging nichts mehr. Wo noch 2018 und 2019 am 9. Mai ein Gedenkmarsch unter dem Titel „Unsterbliches Regiment“ wie in russischen Städten stattgefunden hatte, hielten nun ukrainische Flüchtlinge ihre Fahnen und Transparente hoch. Seit vorigem Herbst lässt Tschechien russische Staatsbürger mit Schengen-Visa nicht mehr ins Land, wenn die Einreise von außerhalb der EU – auf dem Luftweg – erfolgen soll. Eine solche Politik des Nichtwillkommens, wie sie auch in manch anderem EU-Land gilt, hat den Gesundheitstourismus aus Russland nach Karlsbad zum Erliegen gebracht.

Damit brach der Kur- und Hotelindustrie auf einen Schlag ein Großteil ihres Geschäfts weg. In den ersten drei Quartalen des Vor-Covid-Jahrs 2019 hätten Russen 300.000 Nächte in Karlsbad verbracht, im selben Zeitraum 2022 nur 10.000, so Josef Dlohoš, der Leiter der Touristeninformation in der Nähe der Marktkolonnade, in einem Bericht des tschechischen Online-Magazins Aktualne.cz. „Wir unterstützen Russland sicher nicht. Aber ohne die Russen kann die Spa-Branche derzeit nicht überleben“, wird er weiter zitiert. Bürgermeisterin Andrea Pfeffer Ferklová, die ehemalige Chefin des Pupp, bläst ins selbe Horn. Wenn es nicht gelinge, neue Kundschaft zu finden, „wird die Spa-Branche als solche komplett sterben“. Dann wäre Karlsbad kein Kurort mehr, sondern nur noch ein besseres Ausflugsziel.

Gut besucht, aber …

Warum die Verantwortlichen so alarmiert sind, erschließt sich dem Besucher nicht ohne Weiteres. Selbst an milden Wintertagen schlendern jede Menge Fußgänger durch die Straßen. Ende Juni sagte Soňa Bízková der MDZ: „Bei uns ist es schön voll.“ Sogar Russisch sei oft zu hören, weil es ja auch von Russlanddeutschen aus Deutschland und von Ukrainern gesprochen werde.

Doch die Krux liegt darin, dass es Quantität allein nicht macht. Tages- und Wochenendgäste aus dem nahen Deutschland, aus Tschechien selbst oder anderen westeuropäischen Ländern sind kein Ersatz für Menschen, die einen mehrwöchigen Kururlaub buchen und die gesamte Infrastruktur am Laufen halten. „Die heutigen Kurgäste bleiben oft nur eine Woche“, sagt Bízková. Schon zwei Wochen seien die Ausnahme, von drei Wochen, die ein Kuraufenthalt eigentlich dauern sollte, ganz zu schweigen.

Eine „Frage der Mentalität“

Bei den russischen Stammgästen habe es sich nicht um Superreiche gehandelt („die ziehen London und Paris vor“), sondern eine gut verdienende, gehobene Mittelschicht. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Das nötige Kleingeld, um sich, salopp ausgedrückt, drei Wochen in die Wanne zu legen, hätten in Deutschland sicher nicht weniger Menschen als in Russland. Doch dieser potenziellen Kundschaft geht meist das Interesse ab, ihnen fehlt die sowjetische Prägung, das Selbstverständliche eines Kururlaubs. Das macht in Deutschland sogar die Russlanddeutschen zu einer begehrten Zielgruppe, obwohl die kaum zu den einkommensstarken Bevölkerungsschichten gezählt werden können. Manche sparen ein halbes Jahr darauf hin, sich nach einer Kur das andere halbe Jahr fit zu fühlen.

Das sei eine „Frage der Mentalität“, sagt Alexander Herdt. Der Geschäftsführer der Visit SPA GmbH, eines in Nordrhein-Westfalen beheimateten Reiseveranstalters mit Schwerpunkt Kur und Wellness, ist selbst Russlanddeutscher und gebürtig aus dem Altai. Er war zehn Jahre alt, als er 1992 mit seiner Familie nach Deutschland kam. In der Sowjetunion, so Herdt, sei es gang und gäbe gewesen, dass man sich im Sanatorium erholte, ob man nun gesundheitliche Probleme hatte oder nicht. Die Ostdeutschen mit ihrer DDR-Vergangenheit seien da ähnlich gepolt. „Aber komme mal einem Westdeutschen mit einer Kur, der ist doch gleich beleidigt und sagt Ihnen: Ich bin doch nicht krank.“

Wellness als neues Zauberwort

Dabei hätten alle am liebsten die Westdeutschen als Kurgäste, erklärt Herdt. „Die sind am zahlungskräftigsten, die geben Trinkgeld, sitzen abends an der Bar und buchen Ausflüge.“ Aber man müsse sie ganz anders ansprechen. „Wenn du denen zehn Anwendungen pro Tag andrehen willst, dann freuen die sich nicht, weil sie schnell die Müdigkeit aus ihren Gliedern bekommen, sondern kriegen es mit der Angst zu tun, dass ihnen etwas fehlt. Man muss sie mit Wellness locken, mit Relax.“

Kururlaub light sozusagen. Wellness ist auch das neue Zauberwort in Karlsbad. Nur von der Kurindustrie wird es nicht gern gehört. Denn Wellness kann überall sein, viel mehr als einen Swimmingpool braucht es dafür nicht. Mit hochprofessioneller Medizin und all den anderen Vorzügen, die Karlsbad für sich beanspruchen kann, hat das wenig gemein. Und so trauern viele den Russen hinterher, ob man sie nun mochte oder nicht. Denn die wollten das volle Programm. Noch vor wenigen Jahren gab es sogar eine direkte Flugverbindung mit Pobeda von Moskau nach Karlsbad. Heute ist der Karlsbader Flughafen die meiste Zeit des Jahres menschenleer. Nur im Sommer bringen Ferienflieger an drei Tagen in der Woche Einheimische in den Urlaub nach Varna, Heraklion und Antalya.

„Renaissance wird kommen“

Was tun? Zum Glück hätten die Tschechen in der Covid-Zeit Karlsbad für sich entdeckt und gemerkt, dass es doch gar nicht teurer sei als Prag oder Brünn, sagt Soňa Bízková. Es werde aktiv um Gäste aus dem arabischen Raum, aus Israel und Russlands Nachbarland Kasachstan geworben. Und wenn sich die Situation irgendwann beruhige, dann kämen ja vielleicht auch die Russen zurück.

Bei der Stadt hegt man die leise Hoffnung, dass diejenigen, die sich heute mit Wellness begnügen, Gefallen an einem richtigen und richtig langen Kuraufenthalt finden. Vermutlich müsse man den Leuten über den traditionellen Ansatz hinaus auch mehr Erlebnis bieten, so Josef Dlohoš auf Aktualne.cz. „Die Renaissance von Karlovy Vary wird kommen“, meint er. Nur gehe das eben nicht von heute auf morgen.

Tino Künzel

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