
Eine „Goldene Maske“ für ein Stück über das Theater, das 1943 in Workuta entstand. Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie persönlich?
Alles in diesem Stück ist auch meine Familiengeschichte. Mein Großvater Andrej Karl, 1922 in Podsosnowo (Altai) geboren, wurde mit seiner Familie während der Kollektivierung als „Kulake“ enteignet und in den Norden deportiert. Dort starben seine Mutter und zwei Brüder; sein Vater und Onkel wurden 1937 im Kusbass verhaftet. Andrej blieb bei seiner Großmutter, kam 1942 in die Arbeitsarmee und 1943 ins Workutlag.
Meine Großmutter Marta Karl, eine Schwarzmeerdeutsche, überlebte die Deportation 1941 nach Kasachstan – ihr Vater starb dort im ersten Winter. Im Oktober 1943 wurde auch sie nach Workuta geschickt. Dort trafen sie sich: Nach einem Schneesturm half Andrej, ihr zugeschneites Gewächshaus freizuschaufeln. Später heirateten sie und blieben in Workuta, wo ihre drei Söhne geboren wurden. Ich bin dort aufgewachsen.
Nach meinem Studium am Konservatorium arbeitete ich in Syktywkar, kehrte aber 2018 als Direktorin des Workuta-Schauspielhauses zurück. Diese Rückkehr war kein Zufall. Nach der „Sylva“-Inszenierung wusste ich: Ich muss die Geschichte meiner Familie aufschreiben. In unserem Stück greifen wir ein ernstes Thema auf. Es ist unsere Aufgabe, diese Geschichte zu bewahren – und das Theater gibt uns dafür die Stimme. Die „Goldene Maske“ verleiht ihr Gewicht und lenkt die Aufmerksamkeit darauf.
Sie hätten statt nach Workuta auch nach Deutschland ziehen können. Warum sind Sie in der Komi-Republik geblieben?
Meine ganze Familie ist 1994 nach Deutschland ausgewandert. Ich konnte damals nicht mitgehen, weil ich mein Studium am Konservatorium erst abschließen wollte – den Umzug hatte ich mir für danach vorgestellt. Einige Jahre lang lebten mein Mann und ich gewissermaßen auf gepackten Koffern. Doch dann änderten sich die Aufnahmebedingungen und eine Ausreise wurde unmöglich. 2013 hätten wir erneut einen Antrag stellen können – doch wir taten es nicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich im Leben bereits viel erreicht und erkannt, dass ich nicht bereit war, in Deutschland ganz von vorne zu beginnen.
Wie gelingt es Ihnen, das Gulag-Thema anzusprechen, obwohl sich die gesellschaftliche Haltung dazu heute verändert hat?
Uns rettet „Sylva“, eine fröhliche Operette.
Hat das ganze Ensemble Ihre Idee unterstützt?
Mit Menschen muss man immer verhandeln, erklären, überzeugen. Als wir uns auf das Jubiläum des Theaters vorbereiteten, wollten wir etwas Ungewöhnliches schaffen. Da ich eine musikalische Ausbildung habe, lag mir die Idee einer Rekonstruktion der ersten „Sylva“-Aufführung nahe. Doch wie sollte das in einem dramatischen Theater umgesetzt werden? Die Idee reifte zwei Jahre lang. Schon früh teilte ich sie mit allen Mitarbeitern – und gewann sie dafür. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich selbst in dem Stück auftreten würde.

Wie reagieren die Zuschauer auf das Stück?
Immer emotional. Vor allem in Workuta. Das ist unsere gemeinsame Geschichte. Alle, die dort gelebt haben und leben, sind aus verschiedenen Gründen in dieser Stadt am Polarkreis gelandet. Das Wichtigste, was sie verstehen müssen, ist, dass sie glückliche Menschen sind. Sie leben komfortabel, wenn auch im hohen Norden, aber es könnte immer schlimmer sein. Jeder Tag ist sehr wertvoll und wichtig.
Was ist die Aufgabe eines Provinztheaters?
Auch in der Provinz leben Menschen, die ausgehen, etwas überdenken, sich einfach nur entspannen oder eine Komödie sehen möchten. Wir in der Provinz sind erschwinglich – im Gegensatz zur Hauptstadt, wo die Eintrittspreise sehr hoch und für Besucher nicht immer bezahlbar sind. Außerdem arbeiten wir in der Provinz nicht schlechter als die Theater in der Hauptstadt. Die „Goldene Maske” ist der Beweis.
Die Fragen stellte Olga Silantjewa.


