
Das Libretto der berühmten Operette „Die Csárdásfürstin“ (1915) von Imre Kálmán beginnt mit dem Satz: „Wenn der Vorhang hochgeht, ist die Vorstellung soeben aus.“ Der Star des Budapester Varietés, Sylva Varescu, gibt vor ihrer Tournee ein Abschiedskonzert. Zu der Vorstellung kommen ihre Verehrer. Unter ihnen ist auch der Wiener Fürstensohn Edwin Lippert-Weylersheim, der die Sängerin heiraten möchte.
Im Theaterstück „Sylva. Bis zur Premiere“ (2023) des Schauspielhauses in Workuta gibt es zunächst keinen Vorhang. Denn das Theater selbst gibt es noch nicht: Es geht um seine Geburt.
Bis zur Premiere
Aber es gibt den Befehl vom 8. August 1943: „Zur systematischen kulturellen Versorgung der freiwillig angestellten Bevölkerung des Kohlebeckens von Workuta mit Kunst- und Unterhaltungsveranstaltungen befehle ich … B.A. Mordwinow zum künstlerischen Leiter und Chefregisseur des Theaters zu ernennen … Das Theater soll am 1. Oktober eröffnet werden.“
Mit der Verlesung dieses Befehls beginnt die dokumentarisch-künstlerische Erzählung über die Geburt des Theaters und seine erste Aufführung – die Operette „Sylva“ (1943). Das Theater wird ausgerechnet dort gegründet, wo politisch Verfolgte, darunter auch Sowjetdeutsche Zwangsarbeit leisten: im Workutlag, hinter dem Polarkreis. Unter den Häftlingen sind Boris Mordwinow, ehemaliger Chefregisseur des Bolschoi-Theaters, und Schauspieler Alexej Kapler, wegen einer Affäre mit Stalins Tochter verhaftet. Proben finden im Club statt.

Jeden Tag laufen die Schauspieler unter Bewachung 3,5 km hin und 3,5 km zurück in die Baracken. „Wie aus der Hölle ins Paradies und zurück“, sagen sie über ihren Weg. Sie sind froh, wenigstens eine Weile in der Wärme auf der lichtdurchfluteten Bühne zu sein.
Doch das Paradies ist brüchig: Proben werden unterbrochen – wegen Stromausfall, wegen Zusammenbrüchen vor Hunger und Todesfällen wie dem jener Schauspielerin, die an Skorbut stirbt. „Wie soll man tanzen, wenn das Leben so ist?“, fragt ein Schauspieler verzweifelt.
Die Premiere
Übrigens spielen alle in dem Stück unter ihren richtigen Namen. Das heißt, der Regisseur wird mit „Nikolai Alexejewitsch“ angesprochen. Die Konzertmeisterin mit „Jelena Alexandrowna“. Alle, denn hier sind nicht nur die Künstler, sondern auch diejenigen, die hinter den Kulissen arbeiten – Schneiderinnen, Hausmeister, Kostümbildnerinnen, Maskenbildnerinnen und Requisiteure. Es gibt immer noch keinen Vorhang. Deshalb ist alles sichtbar. Das Theater entsteht vor unseren Augen. Wir alle – Künstler und Zuschauer – erleben die Ereignisse von 1943 in einem der Gulag-Lager gleichsam neu.

Während im ersten Akt des Theaterstücks eine Probe stattfindet, wird im zweiten Akt die Premiere aufgeführt. Die Schauspieler tauschen ihre Filzstiefel und Steppjacken gegen Schuhe und elegante Kleidung. Anstelle von Aluminiumbechern aus dem Lager werden Kristallgläser verwendet.
Aber bis zur Premiere ist es noch ein langer Weg. Und dabei geht es nicht nur um die 3,5 km vom Lager zum Club. Selbst im Club kann es noch weit bis zur Premiere sein. In der Pause nach dem zweiten Akt der Operette wird der Darsteller von Boni, einem aristokratischen Witzbold, der in Stasi verliebt ist, verhaftet: Er sagt laut das, woran man noch nicht einmal denken darf. Der Schauspielerin, die die schöne Sylva spielt, gelingt es, die Vorgesetzten zu überreden, ihren Kollegen freizulassen. Entgegen aller Widrigkeiten spielt das Ensemble die fröhliche und glanzvolle Operette bis zu Ende.

80 Jahre nach der Premiere
Das Stück „Sylva. Bis zur Premiere“ wurde zum 80-jährigen Jubiläum des Schauspielhauses von Workuta inszeniert, das seit 2019 den Namen von Boris Mordwinow trägt. Die Darbietung der Schauspieler wird durch Ausschnitte aus dem sowjetischen Film „Sylva“ (1944) und historische Fotos aus den ersten Jahren des Theaters ergänzt. Im Finale werden die Fotos und Namen von Schauspielern aufgeführt, die eine wichtige Rolle in seiner 80-jährigen Geschichte gespielt haben.
Die Idee stammt von der Theaterdirektorin Jelena Pekar. Das Stück wurde von dem Dramatiker Sergej Korobkow geschrieben und von Regisseur Waleri Markin (beide aus Moskau) inszeniert. In diesem Jahr wurde das Stück in den „Goldenen Fonds der Theaterinszenierungen Russlands” aufgenommen und mit der „Goldenen Maske” in der Kategorie „Beste Arbeit eines Dramatikers” ausgezeichnet.
Olga Silantjewa


