
Noch wissen wir nicht, von welchen Parteien die neue Bundesregierung gebildet wird und wer sie als Bundeskanzler anführen wird. Doch unabhängig davon, ob es eine „Jamaika“-Koalition von Union, Grünen und FDP, eine „Ampel“ von SPD, Grünen und FDP oder doch eine ganz andere Regierungskonstellation geben wird: Viele Deutsche erwarten von ihrer neuen Regierung, dass sie sich außenpolitisch klar positioniert – weitaus klarer als in den 16 Jahren unter Angela Merkel.
Unbestreitbar hat sich die auch am Ende ihrer Regierungszeit beliebte Merkel als Krisenmanagerin profiliert. Deutschland ist während ihrer Kanzlerschaft zur faktischen Führungsmacht innerhalb der EU aufgestiegen. Doch sie überließ es anderen wie dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, ehrgeizige strategische Perspektiven etwa in Bezug auf die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU zu entwickeln. Als Macron diese dann formuliert hatte, leistete es sich Merkel, sie einfach zu ignorieren, indem sie es schlicht und einfach vermied, selbst dazu Stellung zu beziehen.
Traditionsreiche deutsch-russische Beziehungen
Schon während des Bundestagswahlkampfs haben viele Deutsche tiefergehende Diskussionen über außenpolitische Themen vermisst. Entsprechend groß sind die Erwartungen an die zukünftige Regierung, außenpolitisch ambitionierter aufzutreten, als dies unter Angela Merkel der Fall war. Dies gilt auch für die deutsche Russlandpolitik. Die deutsch-russischen Beziehungen haben eine reiche Tradition, die von meist konstruktivem Dialog, vertrauensvollen Gesprächen und bereichernden zwischenmenschlichen Begegnungen geprägt ist. Die Reisebeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie hatten zur Folge, dass diese persönlichen Begegnungen in den letzten 18 Monaten häufig gefehlt haben und schmerzlich vermisst wurden. Dies gilt auch für die Arbeit der Hanns-Seidel-Stiftung. Wir hoffen sehr, dass ein Abflauen der Pandemie bald wieder mehr persönliche Kontakte ermöglicht.
Und doch muss die nächste Bundesregierung – in enger Abstimmung mit ihren Partnern in der EU – Russland gegenüber entschiedener auftreten. Dabei geht es nicht um symbolische Gesten, sondern darum, die eigenen Interessen und Standpunkte unter Einbeziehung der eigenen Wertvorstellungen klar zu definieren, an die russische Seite zu kommunizieren und möglichst viele davon in Verhandlungen auf Augenhöhe mit den russischen Gesprächspartnern durchzusetzen.
Im Bewusstsein eigener Stärke
Das bedeutet keineswegs, dass es Projekte wie Nord Stream 2 zukünftig nicht mehr geben kann. Im Gegenteil: Wenn sie im beiderseitigen Interesse sind, wäre es töricht, darauf zu verzichten. Doch beim Moskau-Besuch des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell im Februar dieses Jahres hat sich einmal mehr gezeigt, dass Vertreter des offiziellen Russland Entgegenkommen und Kompromissbereitschaft häufig als Schwäche auslegen. Sie nehmen ihre jeweiligen Gesprächspartner am ehesten dann ernst, wenn diese eine eindeutige Argumentationslinie verfolgen und selbst etwas Konkretes anzubieten haben. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass man sich zuerst seiner eigenen Stärke bewusst sein sollte, ehe man sich auf Verhandlungen mit der russischen Seite einlässt.
Das ist in den Bereichen Wirtschaft und Handel, Wissenschaft und Kultur relativ einfach. Hier darf die nächste Bundesregierung den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen und sollte den insgesamt konstruktiven Dialog auf jeden Fall weiterführen, sofern auch die russische Seite daran Interesse zeigt. Auch auf den Gebieten Energie und Klimaschutz gibt es trotz aller Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten – die im Übrigen auch innerhalb Deutschlands und Russlands bestehen – viele gemeinsame Interessen.
Vor vollendete Tatsachen gestellt
Doch daneben müssen Russland und Deutschland beziehungsweise die EU zunehmend auch über sicherheitspolitische Themen sprechen, um angesichts aufgelöster oder nicht verlängerter Abrüstungsabkommen und einer immer brüchigeren europäischen Sicherheitsarchitektur ungewollte militärische Eskalationen vermeiden zu helfen. Während sich US-Präsident Joe Biden im Juni in Genf mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin getroffen hat, um Verhandlungen gerade auch über sicherheitspolitische Themen einzuleiten, haben sich die EU-Mitgliedstaaten noch nicht einmal untereinander abgestimmt. Deutschland und die EU müssen außen- und sicherheitspolitisch endlich agieren, nicht nur reagieren.
Dies ist umso wichtiger, als etwa die Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten kaum ohne Beteiligung Moskaus gelöst werden können – nicht zuletzt angesichts der aktuellen Zurückhaltung der USA bei der Lösung von Konflikten in aller Welt und bei der Suche nach für alle Beteiligten akzeptablen Nachkriegsordnungen. Anders ausgedrückt: Russland hat mit seiner entschlossenen, interessengeleiteten Außenpolitik den zögerlich agierenden Westen vor vollendete Tatsachen gestellt. Und mit seinem Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat der Kreml einen weiteren Trumpf im Ärmel.
Mit einer Stimme sprechen
Gerade deshalb muss Moskau aber auch Teil der Problemlösung sein. Und genau deshalb ist es so wichtig, dass die neue Bundesregierung ihre eigenen Interessen klar formuliert und kommuniziert, dass sie sich klare außenpolitische Ziele setzt und sich dann mit den anderen EU-Mitgliedstaaten auf gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Positionen einigt. Zweifellos eine schwierige Aufgabe, aber erst wenn dies gelingt, kann die EU mit einer Stimme sprechen und auch zu außenpolitischen Themen in einen konstruktiven Dialog mit Moskau treten, der zur Lösung der immer zahlreicheren Konflikte in der Welt so dringend geboten wäre. Damit hätte die nächste Bundesregierung bewiesen, dass sie den Wunsch der Bürger nach mehr außenpolitischer Klarheit ernst nimmt.
Jan Dresel