Rund um die automobile Zukunft war in den letzten Jahren in Russland nur eines gewiss: die Ungewissheit. Bei der Entwicklung eines russischen E-Autos schienen der bis dahin unbekannte Hersteller Zetta aus Togliatti und der Lkw-Bauer Kamaz aus Nabereschnyje Tschelny mit ihren Kleinstwagen die Nase vorn zu haben. Das „City Module 1“ von Zetta hatte als „billigstes Elektroauto der Welt“ sogar im Ausland Begehrlichkeiten geweckt. Zunächst sollte es 2020, dann 2021 in Serie gehen, sogar Industrie- und Handelsminister Denis Manturow wurde so zitiert, als stünde der Produktionsstart unmittelbar bevor. Diesen Sommer nun machte die Meldung die Runde, das Projekt sei aus finanziellen Gründen eingestellt. Was das Schicksal des „Kama-1“ von Kamaz betrifft, eine Art Elektro-Neuauflage des „Oka“ aus Sowjetzeiten, sind die Nachrichten spärlich. Im Vorjahr hieß es, das Auto werde wohl kaum vor 2024 serienreif sein.
Fast alle Autofabriken stehen still
Es gibt also guten Grund, Meldungen aus einem Segment, das in Russland bisher kaum über Kindergröße hinausgekommen ist, mit Vorsicht zu genießen. Insofern klangen Berichte, wonach die ersten russischen E-Autos bereits Ende September bei Lipezk vom Band laufen und ab Oktober bei den Händlern stehen würden, geradezu surreal. Außer einem Sonderinvestitionsvertrag, den der Hersteller Motorinvest, das Industrieministerium und die Gebietsverwaltung von Lipezk noch im März abgeschlossen hatten, deutete darauf auch wenig bis nichts hin.
Schon gar nicht der beispiellose Kahlschlag auf dem russischen Automarkt. Der Neuwagenverkauf ist in den ersten drei Quartalen um 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr abgestürzt. Pkw wurden zuletzt nur noch in Togliatti (Lada) und Tula (Haval) produziert. Alle sonstigen Fabriken stehen entweder still oder wurden verkauft.
Überschaubare Nachfrage
Nicht gerade ermutigend waren in der Vergangenheit auch die Absatzzahlen für E-Autos. Im Vorjahr wurden gerade einmal 2254 Stück an den Mann gebracht, ein Anteil von 0,1 Prozent am Gesamtmarkt. Das galt im Übrigen fast schon als Durchbruch. Zuvor konnten auf Jahressicht nie mehr als 1000 „grüne“ Autos abgesetzt werden.
Der Aufwärtstrend auf äußerst niedrigem Niveau – in Deutschland wurden 2021 rund 356.000 reine Elektroautos neu zugelassen, sprich mehr als das 150-Fache – hielt auch in der ersten Hälfte des laufenden Jahres an. Doch Experten warnten, dass die entsprechenden Modelle von Herstellern wie Tesla, Porsche und Audi noch vor den Sanktionen eingeführt worden seien. Nun gingen die Lagerbestände zur Neige.
Fast vollständige Lokalisierung angestrebt
Nun jedoch mischt mit Evolute eine zumindest auf dem Papier russische Marke diesen Nischenmarkt auf. Denn trotz oder auch wegen der vielen negativen Vorzeichen ist die Serienfertigung von E-Autos im Dorf Grebenkino 50 Kilometer von Lipezk tatsächlich bereits im Gange. Das Werk wurde am 28. September eröffnet beziehungsweise wiedereröffnet. Dort waren bereits bis 2019 Autos der chinesischen Hersteller Great Wall und Changan montiert worden.
Der Vertrag ist zunächst auf elf Jahre befristet. In dieser Zeit sollen mindestens 240.000 E-Autos hergestellt werden. Motorvinvest verpflichtet sich zu Investitionen in Höhe von 13 Milliarden Rubel (217 Millionen Euro). Zum Ende der Laufzeit soll eine nahezu 100-prozentige Lokalisierung erreicht werden, wie sie heute noch nicht einmal Awtowas (Lada) vorzuweisen hat.
Doch einstweilen ist die Lokalisierung kaum der Rede wert, weshalb von den geplanten 1900 Arbeitsplätzen zunächst nur 150 besetzt sind. Fast alle Teile werden vorerst aus China zugeliefert und im Werk von Motorinvest zusammengeschraubt. Zunächst gilt das für die Limousine Evolute i-Pro mit 163 PS und 420 Kilometer Reichweite. Das Auto sei „zu 98 Prozent chinesisch“, sagte Maxim Kadakow, Chefredakteur der Fachzeitschrift „Sa ruljom“ (Am Steuer), dem Internetmagazin „Podjom“.
Evolute i-Pro macht den Anfang
Die neuen elektrischen Pkw made in Russia sind eng an Vorbilder der chinesischen Hersteller Dongfeng und Seres angelehnt. Der Evolute i-Pro ist zwar nicht gänzlich identisch mit dem Dongfeng Aeolus E70, aber die Unterschiede sind gering. Ende Oktober wurde das erste bei Lipezk produzierte Fahrzeug verkauft. Die Preise beginnen bei nicht ganz drei Millionen Rubel, aber der Staat gewährt eine 35-prozentige Förderung (maximal 925.000 Rubel), so dass der russische E-Pionier für rund zwei Millionen Rubel zu haben ist. Das entspricht umgerechnet etwa 33.000 Euro. Beim Autohändler Avilon, der sich einst einen Namen als Mercedes-Benz-Partner machte und heute 37 Marken im Programm hat, ist der i-Pro bereits lieferbar.
Als Nächstes sollen die SUV Evolute i-Joy und Voyah Free folgen, im kommenden Jahr dann auch der Evolute i-Van und der sportliche i-Jet erhältlich sein. An einigen der fünf Modelle besteht nach Medienberichten Interesse von kommerziellen Kunden, konkret von Taxi- und Carsharing-Firmen. Die gemeldeten Vorbestellungen könnten zu einem freundlichen Bild bei den Absatzzahlen zum Verkaufsstart beitragen.
Tino Künzel