Wenn beim Fußball der Ball in der Mauer landet, dann ist das nur eine Momentaufnahme, nichts Denkwürdiges, was einem lange vor Augen steht. Ganz anders verhält es sich mit dem Bild, das Mauer und Ball in der Wawilow-Straße von Krasnojarsk bieten. Dort wurde das Kinderheim Nummer 1 vor einiger Zeit mit fußballerischen Motiven neu gestrichen und ist nun ein Blickfang in der Millionenstadt am Jenissej. Die bunte Fassade lässt das 60 Jahre alte Gebäude deutlich jünger aussehen. Das lebensfrohe Äußere sei Programm, sagt die stellvertretende Leiterin Nadeschda Denk, der Ausdruck dessen, dass hinter diesen Mauern keine Tristesse herrscht, sondern 104 Kinder im schulpflichtigen Alter ihr Zuhause haben, lernen, Sport treiben, sich mit Kunst beschäftigen und überhaupt eine große Familie sind.
Mit dem Fußball hat es eine besondere Bewandtnis. 2005 eröffnete der Krasnojarsker Amateurfußballklub FK Totem eine Nachwuchsabteilung. Und weil sein Gründer, der Unternehmer Sergej Gorbunow, das Kinderheim Nummer 1 in der Nachbarschaft seines Betriebes auch bisher schon unterstützt hatte, fingen die Heimkinder nun an, für Totem (der Klubname setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der russischen Wörter für Kameradschaft, Geduld und Mut zusammen) zu spielen. Bald schon stellten sich Erfolge ein. 2008 wurden die Jungs zum ersten Mal russischer Kinderheim-Meister. Und 2014, als die russische Nationalmannschaft bei der WM in Brasilien nicht über die Vorrunde hinauskam, trat Totem für Russland bei der Kinderheim-Weltmeisterschaft in Polen an, dem „Hope for Mundial“ für Jugendlich bis 17 Jahre, und holte den Titel. 2016 wiederholte sich dieser Triumph.
Nachdem für die Heimkinder und Cheftrainer Michail Gubitsch zunächst die Gegner immer hochkarätiger geworden waren, wurden es nun die Unterstützer. Die Kunde von den Weltmeistern aus Sibirien drang bis zu Präsident Wladimir Putin. Ein Treffen mit einer Abordnung aus Krasnojarsk wurde organisiert, Putin gratulierte zum Erreichten und erfuhr, dass die Trainingsbedingungen allerdings sehr zu wünschen übrig lassen. Daraufhin ordnete er an, dem FK Totem eine Sporthalle zu bauen, die dann 2017 innerhalb von fünfeinhalb Monaten errichtet wurde.
Aber das war längst nicht alles. Zum Confed Cup 2017, der von Deutschland gewonnenen Generalprobe für die Fußball-WM in Russland (bei der Deutschland dann keine so gute Figur machte), wurden die Kinder als Ehrengäste eingeladen. Bei der Fußball-WM waren sie kollektiv WM-Botschafter, durften die Spiele ihrer „Sbornaja“ sehen und kickten mit Fußball-Legenden auf dem Roten Platz, den Ehrenanstoß vollzogen Putin und FIFA-Chef Gianni Infantino. Die ultimative Begegnung für jeden Nachwuchsfußballer fand im Trainingscamp der portugiesischen Nationalmannschaft statt, wo tatsächlich Trikots mit Starstürmer Cristiano Ronaldo getauscht wurden. „Da wurden Träume wahr“, sagt Totem-Manager Jewgenij Iwanow.
Und die Geschichte muss nicht etwa in der Vergangenheit erzählt werden, sie wird fortgeschrieben. Inzwischen trainieren um die 500 Kinder im Nachwuchs von Totem: solche aus dem Heim und solche aus Familien. Für die Heimkinder bedeutet das wieder ein Stück Normalität, während ihre Altersgenossen von „draußen“ im täglichen Umgang die sicher lehrreiche Erfahrung machen, dass im Heim Kinder leben, die auch nicht anders sind als sie selbst. Sportlich trägt das weiterhin Früchte. Dieser Tage nehmen zwei Mannschaften von Totem (in einer jüngeren und einer älteren Altersklasse) am Finale eines großen russischen Turniers für Heimkinder, seit vielen Jahren von einem führenden Mobilfunkanbieter veranstaltet, in Sotschi teil. Dem Gewinner winkt traditionell eine Reise zum berühmten Fußballklub Arsenal London. So war das auch im vergangenen Jahr. Arsenal bekam Besuch von Fußballtalenten aus Krasnojarsk.
Tino Künzel