Fünf Argumente für einen Ausflug aufs Land nach Kimry

Dort, wo die Wolga erst Anlauf nimmt, zur Mutter aller russischen Ströme zu werden, liegt Kimry. Von Moskau aus sind es mit dem Auto oder Vorortzug etwa 150 Kilometer bis zu der 40.000-Einwohner-Stadt. Die Fahrt aufs Land lohnt sich vor allem aus einem durchaus unerwarteten Grund. Auf den zweiten Blick zeigt sich: Es gibt noch weitere.

So verspielt ist das Stadtbild in der russischen Provinz selten: das Haus der Luschin-Brüder (1909) in Kimry, Kirow-Straße 28b (Foto: Anna Braschnikowa)

Jugendstilbauten aus Holz

„Modern“ heißt der Jugendstil auf Russisch. 100 und mehr Jahre später ist an den Bauten natürlich nichts mehr modern. Aber gerade das verleiht Kimry sein ganz eigenes Flair. Es kann sich glücklich schätzen, die Provinzhauptstadt des Jugendstils in Russland zu sein. Die allermeisten dieser Häuser sind dabei aus Holz.

Eine erste Welle des Jugendstils erreichte Kimry Ende des 19.  Jahrhunderts. Damals war der Ort formell noch ein Dorf, aber seine Kaufleute fuhren oft nach Moskau und St. Petersburg. Dort waren verspielte Häuser wie aus dem Märchen nicht zu übersehen, der Jugendstil kam gerade in Mode.

Die zweite Welle entfiel auf die Zeit der sogenannten Neuen Ökonomischen Politik (NEP) in den 1920er Jahren und hinterließ vielleicht noch mehr Spuren in Kimry. In einem Reiseführer, der mit Unterstützung des Stadtmuseums erstellt wurde, heißt es: „Die Kimrjaken haben es von jeher mit ihren Häusern sehr genau genommen und für deren Verschönerung keine Mühe gescheut. Denn das Haus des Händlers, das Haus des Handwerkers – das sind Visitenkarten. Die besondere Aufmerksamkeit galt den Dächern. Sie wurden zum Äquivalent einer Kopfbedeckung, so wie die Fenster die Bedeutung von Augen annahmen.“

Das Haus des Kaufmanns Potapenko (1903) in der Kirow-Straße 36 (Foto: Anna Braschnikowa)

Für „Hausbesuche“ empfehlen sich besonders die Kirow-, die Moskauer und Ordschonikidse-Straße, wo sich ein Großteil der Holzbauten im Jugendstil befindet. Als besonderes Juwel gilt das Haus der Luschin-Brüder in der Kirow-Straße 28b. In jüngerer Vergangenheit stand es lange leer und war dem Verfall preisgegeben, bis ein neuer Besitzer es in den letzten Jahren restaurieren ließ, dabei allerdings die bläuliche Originalfarbe durch leuchtendes Gelb ersetzte. Innen muss das Haus erst noch saniert werden.

Bei entsprechender Fürsorge könnte Kimry mit seinen kleinen und großen architektonischen Wundern zu einem Touristenmekka am Oberlauf der Wolga werden. Doch leider sind viele Jugendstilbauten in der Stadt längst nicht in bestem Zustand.

Schuhgeschichte im Stadtmuseum

Das Stadtmuseum in der Kirow-Straße 13/18 ist fast schon ein Muss, wenn man schon mal hier ist. Es gibt einen Einblick in die Geschichte des Ortes und damit auch seiner Schuhfabriken, deren Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Ihre Blütezeit erlebten sie unter Peter dem Großen, der Russland von 1682 bis 1725 regierte und dem nachgesagt wird, nur Stiefel aus Kimry getragen zu haben. Auch seine Armee rüstete er damit aus. Zum Beweis sind im Stadtmuseum 2000 Exemplare aus jener Epoche ausgestellt.

Aber auch am Sieg gegen Napoleon im Vaterländischen Krieg von 1812 waren die Schuhmacher aus Kimry auf ihre Art beteiligt. Zar Alexander I. bedankte sich mit einer Batterie an Kanonen.

Im Museum sind auch Sportschuhe zu sehen, die in Kimry zu den Olympischen Spielen 1980 für die sowjetische Nationalmannschaft hergestellt wurden. Wüsste man nicht um diesen Kontext, könnte man sie leicht für heutige Modelle einer angesagten europäischen Marke halten.

In Kimry wohnte früher beinahe in jedem Haus ein Schuhmacher. Heute läuft die Produktion nur noch auf Sparflamme. Aber das russische Militär tätigt hier nach wie vor Bestellungen.

Haus des Handwerks

Wer sich selbst einmal als Schuhmacher versuchen möchte, der kann an einem thematischen Workshop im Haus des Handwerks und der Folklore teilnehmen. Das Museum in der Kirow-Straße 19 ist in einem Anwesen aus dem 19. Jahrhundert untergebracht und schon allein als Architekturdenkmal sehenswert.

Innen kann sich der Besucher einen Eindruck davon verschaffen, was einst einen bäuerlichen Hausstand ausmachte, unter anderem mittels Tafelgeschirr und alter Möbel. Ein sogenanntes Laboratorium der Nationaltrachten lässt Kleider aus früheren Zeiten wiederauferstehen und zieht auch Puppen damit an.

Theater für Schauspiel und Komödie

Trotz überschaubarer Größe hat Kimry sein eigenes Theater. Es ging 1942 aus einem Zusammenschluss zweier Theater hervor: des Theaters von Rschew, einer damals von den Deutschen okkupierten Stadt, und von Torschok, das nahe der Front gelegen war. Seitdem hat das Theater Tausende Stücke aufgeführt, sei es nun auf eigener Bühne, bei Gastspielen in Moskau und St. Petersburg oder auf Festivals. Das Theatergebäude steht am ehemaligen Standort der Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kathedrale, der einst wichtigsten Kirche von Kimry. Sie bildete den Mittelpunkt des Ortes, bis sie 1936 von den sowjetischen Machthabern gesprengt wurde. 

Verklärungskathedrale

Vom Abriss verschont blieb die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtete Verklärungskathedrale, eine der größten Kirchen in der Region Twer. Sie bietet Platz für bis zu 1000 Besucher und wurde zu Sowjetzeiten zwar zunächst geschlossen, aber bereits nach dem Zweiten Weltkrieg wiedereröffnet. Architektonisch vereint sie Elemente des Jugend- und des neorussischen Stils. Zu den Besonderheiten gehören auch Ikonen in Mosaikform an der Fassade und Mettlacher Platten auf dem Fußboden. Gläubige suchen die Kirche vor allem wegen einer uralten Marienikone auf, die Kimry 1901 von Mönchen eines orthodoxen Klosters auf dem Berg Athos in Griechenland geschenkt wurde.

Anna Braschnikowa

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