Ettinger und Jachina: Übersetzer im „Leserausch“

Zu DDR-Zeiten war er im diplomatischen Dienst beschäftigt und Chefdolmetscher von Erich Honecker, im wiedervereinten Deutschland in der Bundesgeschäftsstelle der Linken für Außenpolitik zuständig. Seit er im Ruhestand ist, hat sich Helmut Ettinger einen Namen als Übersetzer gemacht, auch der Bücher der Russin Gusel Jachina. Mitte Januar saßen beide bei einer Lesung Jachinas auf einer Bühne im Dresdner Rathaus. Am Rande der Veranstaltung hat die MDZ mit Ettinger gesprochen.

Früher haben Sie als Dolmetscher mit hochrangigen Politikern gearbeitet. Mittlerweile beschäftigen Sie sich mit literarischen Übersetzungen. Welche Arbeit ist für Sie schwieriger?

Ich wurde als Dolmetscher ausgebildet und habe nach dem ersten Auslandseinsatz in China Außenpolitik studiert. Danach war ich ein paar Jahre lang als Diplomat in China. Lange Zeit habe ich gar nicht übersetzt. In den 80er Jahren wurde dann auf hoher Ebene in der DDR ein Dolmetscher gebraucht. Da man wusste, dass ich gut Russisch spreche und außerdem über Praxis auf diplomatischem Gebiet verfüge, fiel die Wahl auf mich.

Ich habe den Eindruck, dass die Arbeit eines Übersetzers in der heutigen Gesellschaft keinen hohen Stellenwert hat. Besonders Menschen, die selber keine Fremdsprachen beherrschen, glauben, das lerne man so wie Fahrradfahren. Wenn man es einmal kann, dann verlernt man es nicht mehr. Aber das stimmt nicht, es ist eine komplizierte Tätigkeit, die man erst nach Jahren gut beherrscht.  

Als es die DDR nicht mehr gab, wurde ich arbeitslos. Doch ich habe Frau und Kinder. Irgendwie mussten wir unser tägliches Brot verdienen. Seit 1990 übersetze ich Bücher aus dem Russischen und Englischen. Mit dem Aufbau Verlag Berlin arbeite ich schon seit etwa 25 Jahren zusammen.

„Wolgakinder“ an der Elbe: Helmut Ettinger und Gusel Jachina bei einer Lesung in Dresden (Foto: Dietmar Groschischka)

Sie haben mit „Suleika öffnet die Augen“ und „Wolgakinder“ beide Romane von Gusel Jachina übersetzt. Warum Sie?

Wenn ein Buch von Agenten verschiedenen Verlagen angeboten wird, dann suchen die jemanden, der es schnell im Original lesen und eine Rezension dazu schreiben kann. Die enthält eine Empfehlung, ob man das Buch annehmen sollte oder nicht. Danach läuft es wie bei einer Auktion. Zum Zuge kommt, wer schneller ist und wer mehr bietet. Deswegen ist es wichtig, dass sich der Verlag rasch eine Meinung bildet, ob er das Buch haben will.

So bin ich zu Suleika gekommen. Ich wurde gefragt, ob ich das Original schnell lesen und mich dazu äußern kann. Von dem Roman war ich begeistert und habe ihn empfohlen. So war der Verlag schnell in der Lage, sich um das Buch zu bewerben – mit Erfolg. Da ich das Buch bereits kannte, war meine Lektorin der Meinung, ich sollte es auch übersetzen.

Suleika ist eine spannende Geschichte, ein Text von hoher literarischer Qualität. Als ich dem Verlag die Übersetzung übergeben habe, war man dort sehr zufrieden. Das Buch verkauft sich sehr gut und es gab lobende Worte für den Übersetzer.

Ich stelle stets einen direkten Kontakt zu dem Autor oder der Autorin her. Gusel Jachina und ich haben uns auf Anhieb sehr gut verstanden. Damit war klar, dass ich auch ihren zweiten Roman übersetzen werde.

Hat sich die Arbeit an „Wolgakinder“ von der Arbeit an „Suleika öffnet die Augen“ unterschieden?

Die Autorin war bestrebt, keine zweite Suleika zu schreiben. Aber ihre Handschrift ist auch hier klar erkennbar. Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass das Thema Deutsche sind. Eine Problematik, die dem deutschen Leser näher steht als die Entkulakisierung der 1930er Jahre im ersten Buch. Da musste man natürlich vorsichtiger sein. Einen grundsätzlichen Unterschied sehe ich nicht.

Was war das Schwierigste an der Übersetzung des Romans „Wolgakinder“?

Da gab es mehrere Momente. Eine echte Herausforderung für den Übersetzer sind die Schilderungen von Landschaft, Natur und Stimmungen. Die Autorin wünschte sich einen deutschen Text, der poetisch, romantisch und stimmungsvoll ist.  

Einer ihrer großen Vorzüge ist, dass Gusel Jachina an der Moskauer Filmhochschule studiert hat, wie man Drehbücher verfasst. Sie versteht es meisterlich, spannende Szenen zu bauen. Beim Lesen stockt einem der Atem, weil man wissen will, wie es weitergeht.

Auch im Roman Suleika finden sich solche Szenen. Bei beiden Büchern habe ich einen regelrechten Leserausch erlebt und jedes in zwei Tagen durchgelesen.

Welche russischen Begriffe und Ausdrücke, die im Roman verwendet werden, sind für den deutschen Leser erklärungsbedürftig?

Ich habe Fußnoten gesetzt, was bei Belletristik nicht üblich ist. Gusel Jachina hat einige Begriffe mit Anmerkungen erklärt, und ich habe weitere hinzugefügt. Mir scheint, dass die heutigen Leser weniger über Russland und die Sowjetunion wissen als früher die Bürger der DDR. Damals haben viele in der Sowjetunion studiert, man ist öfter hingefahren, Freundschaftsgesellschaften wurden organisiert und die Presse hat mehr geschrieben. Die jungen Leute, die nach der Vereinigung geboren sind, und die Westdeutschen haben viel weniger Kenntnisse, deshalb man muss mehr erklären. Der Anmerkungsteil ist für einen Roman ziemlich groß.

Sie haben viele russische Autoren übersetzt. Was denken Sie über die moderne russische Literatur? Könnte jemand in Europa als ein moderner Tolstoi oder Dostojewski bekannt werden?

Ich maße mir kein Urteil über den Zustand der russischen Literatur an. Ich bin auch immer auf der Suche. In Deutschland wird zu wenig russische Literatur übersetzt und veröffentlicht. Das hängt auch damit zusammen, dass die Slawisten, die mit der Literatur arbeiten, immer weniger werden. Es wachsen zu wenig jüngere nach.

Das ist ein Spiegelbild der deutsch-russischen Beziehungen. Wenn die Verbindungen und Kontakte schrumpfen, dann sinkt auch die Nachfrage nach russischer Literatur. Russland ist ein riesiges Land, dessen Bedeutung wächst. Auch wenn man kritisch dazu steht, muss man es zumindest erst einmal kennenlernen und kann auch nicht nur negative Bilder malen, wie es die deutschen Medien meist tun.

Bücher wie die von Gusel Jachina halten dagegen. Ich finde, sie hat ein differenziertes Bild, es ist nicht diese einfache Verurteilung. Sie zeigt, wie alles miteinander zusammenhängt und was die Ursachen waren. Das trifft auch auf die Stalin-Passagen zu. Die sind sehr kritisch, aber es wird auch die Umgebung deutlich, in der er funktioniert hat.

Das Interview führte Lisa Petzold.

Zur Person: Helmut Ettinger

Helmut Ettinger wurde 1984 Leiter des Dolmetschersektors in der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der SED. Er dolmetschte Honecker, Gorbatschow, Schewardnadse, Gromyko. Ettinger spricht fließend Russisch, Chinesisch, Englisch und Französisch. 1989 hat er nach eigenen Worten einen Gorbatschow-Satz so flott eingedeutscht, wie der Spruch dann berühmt würde: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Das bei einem Gespräch mit Honecker in Berlin geäußerte Original klang demnach etwas sperriger und war übrigens keine Anspielung auf die Verhältnisse in der DDR, wie das damals allgemein ausgelegt wurde und dem Zitat seine Würze verlieh, sondern auf die Reformen in der Sowjetunion gemünzt.

In den letzten Jahrzehnten übersetzte Ettinger zahlreiche Bücher ins Deutsche, vor allem Sachliteratur, darunter von Michail Gorbatschow, Henry Kissinger, Valentin Falin und Roy Medwedew, aber auch Romane und Krimis, zum Beispiel von Ilja Ilf und Jewgenij Petrow, Darja Danzowa, Polina Daschkowa, Daniil Granin, Gusel Jachina und anderen.

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