Erzwungene Evakuierung

Der 28. August ist der Gedenktag für die Russlanddeutschen. An diesem Tag im Jahr 1941 wurde der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen“ unterzeichnet. Damit begann die Deportation der Wolgadeutschen. Doch schon vor dem Erlass wurden Deutsche zwangsumgesiedelt.

Denkmal für sechs deportierte Völkergruppen von der Krim,
eröffnet 2021 am Bahnfof von Siren bei Bachtschyssaraj (Foto: RIA Nowosti)

Weißrussische SSR

Vor Kurzem erhielt die Redaktion einen Brief, in dem sie gebeten wurde, bei der Aufklärung des Schicksals eines Urgroßvaters während des Zweiten Weltkriegs zu helfen. Es stellte sich heraus, dass er, ein Deutscher, mit seiner Familie in Weißrussland, im Rayon Narowlja, lebte. Vor dem Krieg gab es dort mehrere deutsche Dörfer. Im Herbst 1941 landeten jener Urgroßvater und seine Familie in Kursk. Dort wurde den Unterlagen zufolge sein zweiter Sohn geboren. Zu diesem Zeitpunkt war die Stadt bereits von Truppen der Wehrmacht besetzt. Danach verlieren sich seine Spuren und tauchen 1946 wieder auf, wieder in Weißrussland.  

Die MDZ bat den Historiker Viktor Pitschukow aus Gomel um Klarstellung. Er befasst sich mit der Geschichte der Deutschen im weißrussischen Polesien und schrieb darüber, wie sie im Juni-Juli 1941 umgesiedelt wurden: nach den Erinnerungen der einen in die Region Tambow, nach den Erinnerungen der anderen nach Kursk. Und dann, aufgrund des Vormarsches der deutschen Truppen, meist nach Kasachstan. Viktor Pitschukow gelang es, Dutzende von Erinnerungen deportierter Deutscher aus Weißrussland festzuhalten. So erinnert sich der Informant Adolf Mertin, dass die erste Etappe der Zwangsumsiedlung der Deutschen am dritten Kriegstag begann. Der Historiker konnte keine Archivdokumente finden, auf deren Grundlage die Vertreibung stattfand.

Dennoch schlug er vor, die Aussage von Pawel Poljan, einem bekannten Forscher über die Deportationen der Völker der UdSSR, zu präzisieren, dass die ersten umgesiedelten Sowjetdeutschen Krimdeutsche waren. Der belarussische Wissenschaftler gibt jedoch zu, dass die Zahlen nicht miteinander vergleichbar sind: Es gab mehr als 50 000 Krimdeutsche und etwa 8500 Deutsche in Weißrussland. Leider hat uns Viktor Pitschukow jetzt nicht geantwortet.

ASSR der Krim

Die Deportation der Deutschen von der Krim fand Mitte August 1941 statt. Doch auch heute noch gibt es Nachkommen von Krimdeutschen (und nicht nur sie), die glauben, dass ihre Angehörigen nicht deportiert, sondern evakuiert wurden. Viktor Reiser, Vorsitzender der Union der gesellschaftlichen Organisationen der Deutschen der Republik Krim, gegenüber der MDZ: „Am 16. und 18. August 1941 wurden die Deutschen von der Krim nicht deportiert, sondern in den Nordkaukasus evakuiert. Das geht aus der Entscheidung der Kommandoführung hervor. Die Krimdeutschen wurden den politischen Erlassen über die Wolgadeutschen erst später in den Deportations- und Sondersiedlungsorten hinzugefügt“.

Den Dokumenten zufolge ist es so: Die Deutschen wurden auf der Grundlage der geheimen Verordnung „Über die Evakuierung der Bevölkerung aus bestimmten Gebieten der ASSR der Krim“ vom 15. August 1941 umgesiedelt. Und am 18. August brachen die ersten Transportzüge mit Deutschen in den Nordkaukasus auf. Sobald sie dort angekommen waren, wurden neue Verordnungen zur Umsiedlung erlassen. Diesmal wurden fast alle von ihnen in die Kasachische SSR geschickt.

Der Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation vom 21. April 2014 „Über Maßnahmen zur Rehabilitierung des armenischen, bulgarischen, griechischen, italienischen, krimtatarischen und deutschen Volkes und die staatliche Unterstützung für ihre Entwicklung“ hätte der rechtlichen Bewertung der Geschehnisse ein Ende setzen sollen. Im ersten Satz des Erlasses heißt es, dass die Deutschen, wie auch fünf andere Völkergruppen, einer „illegalen Deportation aus dem Gebiet der ASSR der Krim“ ausgesetzt waren.

Ukrainische SSR

Im August 1941 wurden auch Deutsche aus drei Regionen der Ukrainischen SSR „evakuiert“. Dokumente, die diese Evakuierung bestätigen, wurden nicht gefunden. Aber die Mennoniten aus Chortiza in Saporoschschja und die Deutschen aus der Region Dnepropetrowsk, die in den Altai geschickt wurden, erinnerten sich, wie chaotisch die Evakuierung ablief. Die zweite Etappe der Deportation in der Ukraine fand im Herbst statt.

Leningrad und Leningrader Gebiet

Eine weitere Gruppe von Deutschen, deren Umsiedlung die Führung des Landes noch vor dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR über die Wolgadeutschen beschlossen hatte, waren die Deutschen aus Leningrad und dem Leningrader Gebiet.

Am 21. August 1941 erließ der Befehlshaber der Nordfront und Leiter des UNKWD des Leningrader Gebietes den Befehl „Über die Ausweisung von sozial gefährlichen Personen aus Leningrad und dem Gebiet“. Zu den „gefährlichen Personen“ zählte man vor allem Deutsche und Finnen. Bereits am 26. August erließ der Militärrat der Leningrader Front eine Verordnung „Über die Zwangsevakuierung der deutschen und finnischen Bevölkerung aus dem Umland Leningrads“. Damals war es nicht möglich, alle zu „evakuieren“: Der Feind befand sich bereits in der Nähe von Leningrad. Aber etwa 10 000 Menschen wurden damals trotzdem nach Sibirien geschickt. Insgesamt lebten nach der damaligen Volkszählung etwa 23 000 Deutsche in der Region.

Die Geschichte der Deportation der Deutschen in den ersten Tagen und Monaten des Krieges hat noch viele weiße Flecken. Mit dem Erlass vom 28. August wurde der Beschluss zur Deportation der Deutschen aus dem europäischen Teil der UdSSR ideologisch begründet – sowohl derjenigen, die bereits auf dem Weg gen Osten waren, als auch derjenigen, die im Herbst 1941 deportiert wurden. Insgesamt wurden etwa 1 Million Sowjetdeutsche umgesiedelt. Heute ist der 28. August ein gemeinsamer Gedenktag für alle Russlanddeutschen. 

Zusammengestellt von Olga Silantjewa

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