Ein Gift namens Menschlichkeit

Von der Wolga an die Spree: Die Russlanddeutsche Uljana Iljina (48), Lehrerin, Übersetzerin und Texterin, ist als Spätaussiedlerin nach Deutschland gekommen. In ihrer MDZ-Kolumne „Deutschland-Tagebuch“ schreibt sie aus Berlin darüber, wie sie ihre neue Heimat – die Heimat ihrer Vorfahren – erlebt.

Früher war Berlin-Tegel ein Synonym fürs Reisen. Heute ist der stillgelegte Flughafen ein Drehkreuz für ankommende Ukraineflüchtlinge. (Foto: Privat)

Gern würde ich an dieser Stelle stolz berichten, was für ein kluges Köpfchen ich doch bin und wie es mir letztlich gelungen ist, die App der Postbank zu bedienen. Leider muss ich ganz im Gegenteil meine Hilflosigkeit gestehen und dass ich dieser Herausforderung einstweilen noch nicht gewachsen bin. An Briefen und Bedienungsanleitungen von der Bank hat es nicht gefehlt: IBAN, Telefon-Banking-PIN, Aktivierungscode, Postbank ID, all das habe ich bekommen. Aber es will nichts klappen. Freunden und Bekannten geht es genauso. Tröstlich ist, dass die Postbank sich derzeit modernisiert und auf eine neue Internetplattform umzieht, so dass unsere Schwierigkeiten offenbar auch objektiver Natur sind.

Aber da ich ein ungeduldiger Mensch bin, sorgt diese Dauerbaustelle dann doch für gelegentlichen Missmut. Und wenn ich mal nicht so gut drauf bin, dann kommen mir in unserem Wohnheim in Berlin-Marienfelde sogleich meine Nachbarn zu Hilfe. Dagegen verblasst im Übrigen jedes technische Problemchen.

Zeltstadt auf ehemaligem Flughafen

Die meisten meiner Nachbarn sind Ukrainer, genauer gesagt Frauen aus verschiedenen Städten in der Ukraine. Bevor sie in Marien­felde gelandet sind, waren sie im Flüchtlingslager auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tegel untergebracht: Großzelte, Doppelstockbetten, gemeinsame Duschen und Toiletten für eine riesige Zahl an Menschen, Armbänder zur Identifizierung. Natürlich, verglichen mit Luftschutzkellern und Beschuss sind sogar das paradiesische Zustände. Doch viele harren dort schon lange Monate aus – Frauen mit kleinen Kindern, ältere und gebrechliche Menschen. Meine Nachbarn hatten mehr Glück, wenn man denn unter diesen Umständen von Glück sprechen kann.

Da wäre zum Beispiel Oma Tamara (81) aus dem russischsprachigen Nikolajew. Als der Geschützdonner im vergangenen Jahr auch Nikolajew erreichte, da hielt es ihren Sohn nicht mehr in Neuseeland, wo er seit vielen Jahren lebt. Er brachte seine Mutter aus der Stadt und nach Berlin. Selbst hier zuckt sie bei jedem lauten Geräusch, jedem Windstoß und jedem unverhofften Klopfen an der Tür zusammen. Und sagt, sie könne es bis heute nicht fassen, dass ausgerechnet der frühere Kriegsfeind sie aufgenommen hat und ihr hilft, wo es geht. Sie ist Deutschland sehr dankbar.

Tiefer Schmerz und leise Hoffnung

Oder Alla (65) aus dem russischsprachigen Kamenskoje. Alla ist Witwe, sie hat acht erwachsene Kinder. Zwei sind in Deutschland, drei in der Ukraine und drei in Polen. Alle sind sie berufstätig, trotzdem dreht Alla jeden Cent zweimal um und schickt ihren Kindern, was immer sie sich vom Mund absparen kann. Gutmütig, hilfsbereit und verständnisvoll, wie sie ist, war es ein Leichtes, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Wir reden über alles und alle. Über die „Sonderoperation“. Über Russland und die Ukraine. Über die Leute auf beiden Seiten. Nie hat Alla mich Hass oder Verachtung spüren lassen. Da ist nur tiefer Schmerz und die Hoffnung, dass dieser Wahnsinn ein baldiges Ende hat.

Oder Amalija (66) aus dem russischsprachigen Odessa. Sie erzählt und singt gern von ihrer Heimatstadt. Und zeigt mir Fotos ihres Hauses und ihres Gartens, den sie gemeinsam mit ihrer Familie angelegt hat. Während Amalija nach dem 24. Februar geflüchtet ist, blieben ihr Mann und ihr Sohn in der Ukraine. Trotz der Lebensfreude, die sie ausstrahlt, füllen sich ihre Augen mit Wehmut und Tränen, wenn sie über ihre Männer spricht.

Leckereien, Blumen und Lieder

All meine Nachbarsfrauen wollen nach Hause. Und sie nehmen mich dauernd in den Arm, diese berührenden Menschen. Und sie lassen mir und den Kindern alle möglichen Leckereien zukommen. Und sie schenken mir Blumen. Einfach so, um mir eine Freude zu machen. Und sie singen – auf Armenisch, auf Ukrainisch, auf Russisch. Unsere Lieder aus Sowjetzeiten, die Teil unserer gemeinsamen Geschichte sind. Die war längst nicht immer sympathisch und nicht immer gerecht, aber es war unsere Geschichte. Man tilgt sie nicht so einfach aus dem Kopf und aus dem Herzen.

Als sich meine Tochter vor unserer Ausreise von Russland nach Deutschland von ihrer Kunstlehrerin verabschiedet hat, da bekam sie von dieser relativ jungen Frau zu hören, was uns angeblich im Westen und von den Ukrainern erwartet: „Die werden euch vergiften. Uns hassen dort alle. Man wird euch runterputzen und drangsalieren.“ Nun, wenn das Gift in Menschlichkeit, Unterstützung, Verständnis und Liebe besteht, dann lasse ich mich gern auch weiterhin „vergiften“.

Aber unser Leben spielt sich natürlich nicht nur im Wohnheim ab. Und so komme ich auch mit dem berühmten Berliner Nahverkehr ständig in Berührung. Aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.

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