Haben Sie es in den letzten Wochen schon bereut, Direktor einer Einrichtung zu sein, die ihren deutsch-russischen Charakter bereits im Namen trägt?*
Nein. Aber mich beschäftigt natürlich wahnsinnig, was da im Moment passiert. Wenn man so will, geht gerade ein Jugendtraum von mir kaputt. Ich habe Geschichte und Russistik in Berlin und Hamburg studiert, war 1987 das erste Mal für einen Sprachkurs im damaligen Leningrad. Die Perestroika, der gesellschaftliche Aufbruch – das war eine total spannende Zeit. Wind of Change. Ein Sechser im Lotto, das in der einen oder anderen Form aus der Nähe miterleben zu dürfen.
Diese Aufenthalte haben Sie für das Land eingenommen?
Als Westdeutscher konnte ich bis zum Studium kein Russisch und hatte auch keine Ahnung von Osteuropa. Vieles habe ich erst nach und nach begriffen. Der erste Osteuropäer, an dem ich meine frisch erworbenen Russischkenntnisse ausprobieren wollte, war ein Pole. Er war nicht begeistert. Im Russischen Museum in Leningrad sprach mich eine der Aufpasserinnen an, als sie merkte, dass ich Deutscher bin. Diese russische Babuschka erzählte mir die grauenvolle Geschichte ihrer Familie im Krieg. Aber das war überhaupt nicht anklagend gemeint, sondern versöhnlich. Zum Schluss sagte sie: Wie schön, dass du hier bist und wir miteinander reden können.
Seit 2009 leiten Sie nun das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst.*
Was Russland betrifft, waren das schon nicht mehr die wilden Zeiten des Übergangs. Es herrschten geordnete Verhältnisse, ein gewisser Wohlstand hatte eingesetzt. Wenn uns Kollegen von dort besuchten, dann konnten sie selbst für ihren Unterhalt sorgen. Auch in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit ging es gefühlt immer weiter. 2009 war noch viel in Bewegung und eine große Offenheit da. Nüchtern betrachtet stagnierte speziell in den letzten Jahren aber schon einiges. Und jetzt habe ich das Gefühl: Es ist etwas kaputt gegangen, und zwar nachhaltig. Das lässt sich so schnell nicht wieder reparieren.
Wann haben Sie zuletzt mit Ihren russischen Partnern gesprochen?
Am 25. Februar. (Anm. d. Red.: Am 24. Februar begann Russland seine „Sonderoperation“ in der Ukraine.) Ich war vollkommen aufgebracht und habe einfach mal zum Hörer gegriffen, um Alexander Nikonow, den Direktor des Zentralmuseums der Streitkräfte der Russische Föderation, in Moskau anzurufen. Den schätze ich als umsichtigen, aufgeschlossenen Kollegen. Und er hat Großartiges für unser Museum geleistet. Das Gespräch war durchaus freundlich, in dieser vertrauten, sehr zugewandten Grundstimmung, die immer zwischen uns bestand.
Aber seitdem herrscht Funkstille.
Das, was man sagen wollte, sagt man nicht am Telefon. Das geht nicht. Also halten wir erst einmal inne. Vieles von dem, was für dieses Jahr geplant war, wird nicht stattfinden, aus für beide Seiten nachvollziehbaren, wenn auch unausgesprochenen Gründen. Abgesehen davon, gibt es inzwischen von deutscher Seite auch Verbote, an die wir uns zu halten haben.
In der Vergangenheit lief das alles reibungslos?
Wir haben seit 1997 und 1998 auf deutsches Betreiben hin auch die Weltkriegsmuseen in Kiew und Minsk bei uns im Verein, der ursprünglich nur bilateral angelegt war. Ab 2014 ist Iwan Kowaltschuk, der Kollege aus Kiew, dann nicht mehr zu den Mitgliederversammlungen erschienen. Er hat gesagt, dass er sich nicht mit Vertretern einer Kriegspartei an den Tisch setzt, und jeglichen Kontakt zu seinem russischen Gegenüber abgebrochen. Im Zuge der jetzigen Geschehnisse haben wir von ihm dramatische Anrufe bekommen – aus einem Luftschutzkeller in Kiew.
Politisch sind die Gegensätze zwischen Deutschland und Russland nicht mehr zu überbrücken. Haben Sie vielleicht auch in Fachkreisen Risse, Kontroversen, zunehmend unterschiedliche Narrative bemerkt, was die deutsche und russische Sicht auf die gemeinsame Geschichte betrifft?
Ich stelle immer wieder fest, wie wenig Gespür auf der anderen Seite dafür vorhanden ist, warum man in Ländern wie Polen oder Tschechien schlecht auf die sowjetische Armee zu sprechen ist und vor Russland Angst hat. Das wird zur Seite gewischt, wir haben die doch befreit, heißt es dann immer. Da fehlt auch das Anerkennen von historischen Vorgängen, die bei anderen Ängste hervorrufen. In der Gesellschaft ist nichts gewachsen, was ein Antizipieren der Wahrnehmung von außen gewährleistet hätte.
Haben Sie als Historiker eine Erklärung dafür, warum die Öffentlichkeit in Russland mehrheitlich so anders auf die Ereignisse in der Ukraine reagiert, als das in praktisch ganz Europa der Fall ist?
Der Patriotismus! Noch in der ersten Amtszeit von Putin wurde ein Bildungsprogramm aufgelegt, das die patriotische Erziehung zum Ziel hatte, in Verbindung mit der Kriegserinnerung. Da kam nach und nach der Begriff der Wahrhaftigkeit ins Spiel und dass es wichtig ist, die Wahrheit über diesen Krieg zu erfahren und zu vermitteln. Doch die Definition dessen, was denn die Wahrheit ist, stützt sich auf keinen akademischen Diskurs. Dazu kommt noch die Tabuisierung bestimmter Wissensgebiete und die Präsentation „alternativer“ Fakten, die dann sozusagen gleichberechtigt neben dem stehen, was erforscht und belegt ist.
Das wäre meine Erklärung dafür, wie es möglich ist, für das, was da aktuell läuft, eine Akzeptanz zu kriegen. Putin hat auf den letzten Metern ja sehr historisch argumentiert. Er wird sich etwas davon versprochen haben. Und mein Eindruck ist: Es funktioniert eben auch. Das ist tatsächlich erstaunlich.
Halten Sie es für denkbar, dass auch die Art und Weise des Kriegsgedenkens, die Heroisierung, Ästhetisierung zur breiten Akzeptanz der heutigen Vorgänge beiträgt?
Da wäre ich vorsichtig. In der Normandie, wo ich vor Kurzem war, macht man exakt das Gleiche wie in den Moskauer Museen. Bei den Erinnerungsformen sehe ich kaum Unterschiede. Oder schauen Sie in die USA, wo solche Formen sehr intensiv gelebt und in Filmen immer wieder reproduziert werden. Ich würde den Spieß eher umdrehen: Da ähneln sich alle – bis auf die Deutschen.
Die den Krieg verloren haben. Apropos: Jetzt wirft der 8./9. Mai seine Schatten voraus. Wie wird der Jahrestag der deutschen Kapitulation diesmal in Ihrem Museum begangen, wo vor 77 Jahren die Kapitulationsurkunde unterzeichnet wurde?
Nicht mit einem Fest, wie das vor Corona üblich war. Uns ist nicht nach Feiern zumute. Statt des traditionellen Formats „Toast auf den Frieden“ am 8. Mai um 22 Uhr wird es eine „Mahnung für den Frieden“ geben. Dabei wird auch nicht wie sonst üblich mit Sekt angestoßen, sondern eine Schweigeminute eingelegt. Ansonsten herrscht normaler Museumsbetrieb. Wir sind den ganzen Tag da und ansprechbar. Nur werden wir einen Einlassdienst haben und unsere Hausordnung durchsetzen, die das Tragen von Fahnen, Abzeichen und T-Shirts mit gewissen Aufdrucken verbietet.
Steht Ihr Museum generell sehr im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit?
Oh ja. Nicht nur, dass wir im Februar und März praktisch täglich Interviewanfragen hatten. Auch die Nachbarschaft achtet sehr genau darauf, was mir machen. Jede Veränderung wird fast schon seismografisch wahrgenommen. Wir bekommen auch permanent Zuschriften. Das reicht von wüsten Beschimpfungen bis zu Lob und Vorschlägen.
Vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklung: Wie stellen Sie sich Ihre künftige Arbeit vor?
Ich möchte noch einmal betonen, dass wir bisher eine gute Zusammenarbeit auch mit den Moskauer Kollegen aus den großen staatlichen Museen hatten. Die haben unsere Ausstellungen gezeigt, wir deren. Einmal sind wir mit einer Ausstellung sogar durch ein Dutzend russischer Museen getourt. Wobei ich mich mittlerweile auch frage: Was hat das eigentlich für Spuren hinterlassen? Aber ich würde mir schon wünschen, dass das perspektivisch weitergeht. Selbst wenn die Fragestellungen und Darstellungsformen sehr konträr sein würden, wäre ich dafür, dass wir diese Form von Austausch beibehalten. Dass das nicht unbedingt dazu führt, dass man sich gedanklich annähert, haben wir nun leider auch gelernt.
Ich würde gern die Tür des Museums als Begegnungsraum offenhalten. Es ist der Minimalkonsens, dass wir im Gespräch bleiben und uns auch an strittigen Themen abarbeiten. Ob dieses Angebot von den Ukrainern und den Russen auch wahrgenommen wird, liegt nicht in unserer Macht. Kann sein, dass wir erst mal etwas einsam in Karlshorst sitzen.
Das Interview führte Tino Künzel.
* Im Nachgang des Interviews hat die Museumsleitung mitgeteilt, man werde fortan den im Vereinsregister eingetragenen Namen Museum Berlin-Karlshorst statt wie bisher Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst verwenden. Schließlich erinnere das Museum an alle sowjetischen Opfer, unabhängig von der Nationalität.
Museum Berlin-Karlshorst
Am Ort der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg wurde 1967 – zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution – zunächst ein sowjetisches Militärmuseum eingerichtet. Nach der Wende, als sich die russische „Westgruppe“ auf ihren Abzug vorbereitete, einigten sich Deutschland und Russland auf eine Weiternutzung. Das neue Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst wurde schließlich 1995 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dem Trägerverein gehören heute 17 institutionelle Mitglieder an, darunter von russischer Seite die Ministerien für Kultur, Äußeres und Verteidigung sowie drei große staatliche Museen. Beim Vorsitz wechseln sich die Direktoren des Deutschen Historischen Museums und des Zentralmuseums der Streitkräfte Russlands alle drei Jahre ab. Finanziert wird das Museum aus dem Bundeshaushalt. Neben einer Dauerausstellung zum deutschen Vernichtungskrieg in der Sowjetunion sind regelmäßig Sonderausstellungen zu sehen.