
Es ist einer dieser Orte, auf den man wohl kaum stolz ist, wenn man ihn einmal besucht hat. Wer eine Nacht in der Ausnüchterungszelle verbringen muss, hat die Kontrolle über sich verloren, zumindest für eine Nacht. Wer in Russland zu tief ins Glas schaut, kann ab diesem Jahr diese unschöne Erfahrung wieder erleben. Denn zehn Jahre nach ihrer Abschaffung hat die Duma mit einer Gesetzesänderung den Weg für die landesweite Rückkehr der Ausnüchterungszellen freigemacht.
Lange Zeit gehörten die Räume, in denen man seinen Rausch ausschlafen konnte oder musste, wie der Alkoholismus zu Russland. Noch im Zarenreich wurden 1902 die ersten Ausnüchterungszellen eingeführt, unter anderem in der Wolgastadt Saratow und im ukrainischen Kiew. Nachdem die Bolschewiki es zunächst ohne die Einrichtungen versuchten, zogen Ausnüchterungszellen 1931 auch in das Sowjetreich ein.
Mit der Polizeireform 2010 unter Präsident Dmitrij Medwedew wurden die Ausnüchterungszellen schließlich offiziell abgeschafft. Man habe festgestellt, dass die Rechtsgrundlage eine völlig andere sei und man die Einrichtungen nicht mehr betreiben könne, hieß es damals. Ganz verschwunden sind die Räumlichkeiten allerdings nie. Örtliche Initiativen halten die Ausnüchterungszellen in 20 russischen Regionen bis heute am Leben. Und vielerorts gibt es die sogenannten medizinischen Ausnüchterungszellen.
Viele Menschen sterben am Alkohol
Auf den ersten Blick verwundert die aktuelle Gesetzesänderung ein wenig. Schließlich sagen die Menschen in der Wodka-Großmacht Russland immer öfter nein zum Alkohol, besonders zu Schnaps. Dennoch sterben jedes Jahr rund 50 000 Menschen an Alkohol, davon 12 000, weil sie betrunken auf der Straße erfrieren. Laut dem Innenministerium wurden 2018 mehr als eine Million Betrunkene aufgegriffen, davon seien 180 000 orientierungslos gewesen und hatten Probleme, sich fortzubewegen. Auch Verbrechen unter Alkoholeinfluss haben in den vergangenen Jahren zugenommen. Nach Angaben des Innenministeriums um 35 Prozent, in manchen Regionen sogar um 70 Prozent. Für den Duma-Abgeordneten und einen der Initiatoren der Gesetzesänderung Alexander Chinschteijn sind diese Zahlen nicht hinnehmbar.
Abhilfe sollen die Ausnüchterungszellen schaffen, in die jeder eingeliefert werden kann, „der sich in einem Zustand befindet, der die menschliche Würde erniedrigt“. Und das entgegen ersten Entwürfen auch zwangsweise. Für die Kosten müssen die Gemeinden selbst aufkommen. Und weil Geld außerhalb Moskaus ein rares Gut ist, dürfen die Ausnüchterungszellen in einer öffentlich-privaten Partnerschaft betrieben werden. Wer also seinen Rausch in Obhut ausschlafen muss, wird anschließend zur Kasse gebeten. Pro Nacht sollen dies 1500 Rubel (17 Euro) sein, rechnet die Nachrichtenagentur TASS vor.
Breite Zustimmung und Kritik am Modell
Bei der Wiedereinführung der Ausnüchterungszellen konnte und kann die Regierung auf die breite Unterstützung der Menschen im Land bauen. Ende Dezember 2020 veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Anketolog eine Umfrage, wonach 83 Prozent der Russen die Rückkehr der Ausnüchterungszellen begrüßen. Bereits während der Planungsphase der Gesetzesänderung 2019 kamen verschiedene regionale Umfragen auf über 70 Prozent Zustimmung.
Ganz ohne Kritik ging die Gesetzesreform dennoch nicht vonstatten. So konnte sich Wladimir Schirinowski zwar grundsätzlich mit dem Gedanken anfreunden, eine Sammelstelle für Alkoholisierte zu schaffen, doch gefiel dem LDPR-Lautsprecher der Name nicht. Man müsse eine Bezeichnung finden, die nicht so negativ konnotiert sei, schrieb Schirinowski auf seinem Telegram-Kanal und schlug auch gleich „Asyl für Erschöpfte vor“.
Deutlich mehr Kritik als am Namen gibt es für die Form der Ausnüchterungszellen. Bedeutet doch eine öffentlich-private Partnerschaft, dass der Geldgeber eine Dividende sehen möchte. Hochrechnungen gehen von Einnahmen von 1,5 bis 2 Milliarden Rubel pro Jahr aus (17 bis 22,5 Millionen Euro). Bei diesen Summen, so die Befürchtung, könnten Investoren Blut lecken und mehr wollen.
Die Folgen wären dann entweder höhere Gebühren oder aber „Quoten“, nach denen Polizisten auch diejenigen einliefern, deren Pegel noch ausreichen würde, um halbwegs sicher nach Hause zu kommen. Befürchtungen gibt es auch, dass Polizisten ihre Macht gegenüber den Betrunkenen ausnutzen und diese misshandeln oder ausbeuten könnten. Das glauben zumindest drei von vier Befragten der Anketolog-Studie.
Daniel Säwert