Die Datscha, das gelobte Land

Ein halbes Jahr war das Paradies vor den Toren der Stadt geschlossen. Aber jetzt hat in Russland die Datschensaison begonnen. Und das heißt: Millionen Russen verbringen das Wochenende auf ihrem Grundstück im Grünen oder ziehen gleich ganz dorthin um. Auch unser Chefredakteur Igor Beresin ist ein Datschnik. Werfen Sie mit ihm zusammen in einer neuen MDZ-Kolumne einen Blick über den Gartenzaun!

Ein Stück heile Welt im Grünen (Foto: Tino Künzel)

Freitagabend in Moskau. Auf sämtlichen Ausfallstraßen herrscht Hochbetrieb. Anstatt sich mit Freunden auf der offenen Veranda eines netten Lokals im Zentrum zu treffen, bei einer angesagten Ausstellung vorbeizuschauen oder einfach zu Hause nach einer anstrengenden Arbeitswoche zu entspannen, flüchten die Moskauer aus der Stadt. Dass sie dabei mitunter Stunden im Stau mit Ihresgleichen verbringen, wird in Kauf genommen. Es ist ein kleines Opfer für das große Glück, das vor ihnen liegt – die Datscha.

Meine deutschen Kollegen halten an dieser Stelle ein Vorwort für angebracht. „Was die Datscha für Russen bedeutet, musst du erst einmal erklären. Weiß ja nicht jeder, dass das für euch eine eigene Kultur ist.“ Letzteres ist nicht zu bestreiten. Doch wie macht man das einem Ausländer verständlich? Sicher, die Datscha ist mehr als ein Schrebergarten. Aber was ist sie dann?  

Ein Abstecher in die Geschichte hilft hier nicht weiter. Natürlich könnte man die Datschentradi­tionen aus vorrevolutionärer Zeit bemühen, doch sie haben wenig mit der Gegenwart zu tun. Das sind zwei ganz verschiedene Epochen, getrennt durch Revolution, Krieg und Hunger, durch eine (mehrfache) Umverteilung von Eigentum, einen totalen Mangel an allem Möglichen zu Sowjetzeiten, durch die Perestroika und die Zerstörung des herkömmlichen Dorflebens. Angesicht dessen von Kontinuität und Traditionen zu sprechen, ist schwierig. Lassen Sie uns deshalb lieber über das Hier und Heute reden. Ich habe Zeit. Wir stehen sowieso im Stau auf der M4.

MDZ-Chefredakteur und Datscha-Besitzer Igor Beresin plaudert in seiner Kolumne aus dem Datschnik-Nähkästchen.

Die Datscha ist etwas sehr Russisches. Hier feiern buchstäblich alle Russlandklischees ein Stell­dichein. Sehr wahrscheinlich hat die Datscha eine Banja, nach deren Besuch weder Kwass noch Wodka auf großen Widerstand stoßen. Bei schönem Wetter ist es nahezu unvermeidlich, dass die wichtigste Datschendelikatesse – Schaschlik – auf den Tisch kommt, wozu auch Nachbar Iwan eingeladen werden kann. Leider sind Bala­laika und Garmoschka selbst auf dem Dorf selten geworden, von den Datschensiedlungen ganz zu schweigen.

In genau so eine Datschensiedlung sind wir unterwegs. Ein früheres Kolchosefeld, in Grundstücke aufgeteilt. Nicht der Quadratmeter ist hier die Maßeinheit wie in der Stadt, sondern die Sotka, ein Quadrat von zehn mal zehn Metern. Sechs davon, also 600 Quadratmeter, bildeten den sowjetischen Datschenstandard. So groß waren die Parzellen, die Betriebe ihren Mitarbeitern zukommen ließen. Heute kann man gern auch einen Hektar Land haben. Aber egal, wie groß die Fläche ist und wie massiv das Haus, das darauf steht – all das wird mit Begriff Datscha zusammengefasst.

Das Porträt eines typischen Datschniks? Es hat viele Gesichter. Ein Blick zur Seite auf die Nachbarspur: Auf dem Kofferraum des in die Jahre gekommenen Autos sind einige Rollen mit Dachpappe verschnürt. Hallo Seelenverwandter, ich erkenne dich, du Liebhaber des Selbst-ist-der-Mann und nimmermüder Erbauer des eigenen Landsitzes.

Oder die Weggefährten von links: Ihr Auto platzt fast vor Kindern. Logisch, die Kleinen sollen in den Ferien nicht im stickigen Moskau hocken müssen. Ein Urlaub am Meer ist dabei nicht die Universallösung, zumal ihn sich gar nicht jeder leisten kann. Ohne die Datscha geht es nicht.

Da drüben wachsen Pflanzen aus dem offenen Seitenfenster und die Rückbank wird von Grünzeug eingenommen. Alles klar: Gärtner und Kleinbauern. Wenn man schon über ein Stück Erde verfügt, dann muss darauf auch etwas angebaut werden. Den einen hilft die Ernte, auch mit schmalem Verdienst über die Runden zu kommen. Andere experimentieren aus Lust und Liebe mit dekorativen Blumen.  

Igor auf seiner Datscha. Er schreibt aus eigener Erfahrung. (Foto: Privat)

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Jugendliche in einem Auto mit wummernden Bässen stimmen sich schon mal für ein Wochenende ohne Eltern auf der Datscha ein. Die stilvollen jungen Leute im Mini Cooper ziehen der traditionellen Kombination aus Schaschlik und Wodka gewiss edle Tropfen vom Mittelmeer und erlesene Häppchen vor. Für den sichtlich gut situierten Fahrer eines Toyota Land Cruiser darf es an kulinarischen Gelüsten und entsprechenden alkoholischen Begleiterscheinungen vermutlich sowohl das eine wie das andere sein.

Ältere Menschen verdienen eine gesonderte Erwähnung. Sie sind es, die von der Unternehmung namens Datscha oft am meisten profitieren. Von der frischen Luft, von der Möglichkeit, die Enkel um sich zu haben, deren Eltern sie ihren Müttern und Vätern gern für den gesamten Sommer überlassen. Doch das Wichtigste: Die Datscha wird häufig zu einer Art „Rentenprojekt“. Auf eine finanzielle Absicherung durch den Staat zu setzen, ist eine schwache Hoffnung, allein von der Rente zu leben schwierig. Wer dagegen im Alter auf die Datscha umzieht, kann sich zumindest zum Teil mit eigenen Lebensmitteln vom Beet versorgen und gegebenenfalls auch noch seine Moskauer Wohnung vermieten.

Für die Datscha ist keiner zu jung oder zu alt, zu arm oder zu reich, zu weit oben oder unten auf der sozialen Leiter. Sie ist praktisch ein universeller Wert. Und doch: Das Leben auf der Datscha verspricht eine Freiheit, die in der Stadt Mangelware ist, steht aber gleichzeitig auch für ihr Gegenteil. Aus engen Stadtwohnungen, aus dem Moskauer Gewimmel geht es raus in die Natur, an die Luft, in die Stille. Doch der Preis für dieses Vergnügen sind nicht nur die Staus: Wer eine Datscha sein Eigen nennt, der muss sich wohl oder übel um sie kümmern. Den ganzen Sommer den Rasen mähen, ständig etwas reparieren, bauen, anschleppen, buddeln. Ein Datschenjoch.

Vielleicht sollten wir es einfach bleiben lassen? Und auf der leeren Gegenfahrbahn nach Moskau zurückkehren?

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