Am meisten hat Pawel Murawjew bedauert, dass er nur 40 Stunden Zeit für die Kola-Halbinsel hatte. Und dass er sich nichts aus Meeresfrüchten macht, an denen die Auswahl in den Restaurants der Gegend so reich ist. Auch hat er noch keine zufriedenstellende Erklärung für den Ursprung und Sinn der Steinpyramiden an der Straße von Murmansk nach Teriberka gefunden.
Murawjew, Wissenschaftler am prominenten Kurtschatow-Institut in Moskau, war bis vor Kurzem noch nie in derart nördlichen Breitengraden gewesen. Doch als ihn Kollegen, die am Kola-Kernkraftwerk Dienst schoben, zu einem Wochenend-Ausflug einluden, nahm er einen Flug nach Murmansk, 1500 Kilometer gen Norden. Das Ticket kostete zwar ungefähr doppelt so viel, als wenn er nach Sotschi ans Schwarze Meer geflogen wäre, doch am Ende war der Vater einer kleinen Tochter froh, nicht auf den „inneren Schwaben“ gehört zu haben, wie er lachend erzählt. Von der Kola-Halbinsel brachte er bleibende Eindrücke und viele erstaunliche Fotos mit, einige davon sehen Sie hier.
Alte Dörfer, junge Städte
An dieser Stelle ein wenig Basiswissen, um die weitere Schilderung einordnen zu können. Die Kola-Halbinsel ist ungefähr so groß wie Island und liegt nahezu vollständig jenseits des Polarkreises. Sie ist größtenteils unbewohnt, die wenigen Städte konzentrieren sich auf den äußersten Westen der Region, also die Nahtstelle zum Rest der Oblast Murmansk, dort, wo sie per Straße und Eisenbahn mit dem übrigen Russland verbunden ist. An seinen anderen drei Seiten wird die Halbinsel von der Barentssee und dem Weißen Meer umspült.
Während kleinere Orte mitunter eine jahrhundertelange Geschichte haben, sind die meisten Städte Kinder der Industrialisierung zu Sowjetzeiten und bis heute sowjetisch geprägt. Dass sie sich besonders harmonisch in die Landschaft einfügen, kann nicht behauptet werden. Kein Zufall, dass Murawjew und seine Kollegen zum ganz überwiegenden Teil Natur fotografiert haben.
Steigende Besucherzahlen
Die Kola-Halbinsel ist bisher noch ein Geheimtipp für Urlauber, erfreut sich aber einer spürbar wachsenden Beliebtheit. Pawel Murawjew berichtet von Hotels und Restaurants mit „Moskauer Preisen“, die dort neuerdings anzutreffen sind, von Glamping, das auch in der russischen Arktis aufgeschlagen hat, von Krabbenfang und Walbeobachtung als Trümpfen, mit denen der Fremdenverkehr zu punkten versucht. Das Dorf Teriberka, Drehort für den Film „Leviathan“, erlebt geradezu einen Gästeboom, obwohl es bei Murawjew „gemischte Gefühle“ hinterlassen hat: Es werde zwar viel Neues gebaut, gleichzeitig verfielen die Holzhäuser und stünden leer.
Am meisten fasziniert hat den Rand-Moskauer, dass es auch nachts nicht dunkel wurde. Im Sommer geht die Sonne mehr als neun Wochen gar nicht unter. Russlands kalter und vermeintlich unwirtlicher Norden zeigt sich dann von einer ganz anderen Seite. Murawjew spricht von T-Shirt-Wetter, das warme Bekleidung überflüssig gemacht habe. Aber er sagt auch: „Man fragt sich unweigerlich, wie es die Menschen hier im Winter aushalten, wenn wochenlang nur Dunkelheit herrscht.“ Zumindest kann dann wieder das Polarlicht beobachtet werden, nirgendwo in Russland sind die Chancen darauf so groß. Schon Mitte September ist es auf der Kola-Halbinsel dunkel genug. Und es fällt oft auch schon der erste Schnee.
Tino Künzel