Der Sofablick auf Olympia

Die Medaillen sind vergeben, die Rekorde gelistet. Auf dem gesamten Erdball wurden die Olympischen Sommerspiele in Tokio verfolgt – sogar von MDZ-Chefredakteur Igor Beresin, den Sport sonst eher kalt lässt. Daheim auf dem Sofa. Eine Olympia-Nachlese jenseits des Medaillenspiegels.

„Wir sind Erster!“ Bushaltestelle in St. Petersburg mit Bild der russischen Turnerinnen, die in Tokio beim Mannschaftsmehrkampf Gold holten – ebenso wie die Männermannschaft. (Foto: Tino Künzel)

Um den Titel des unsportlichsten Redaktionsmitglieds könnten sich gewiss auch andere bewerben. Ich bin nicht der Einzige ohne Fitnessstudio-Abo und Fahrrad. Bezieht man jedoch einen Zeitstrahl in die Wertung ein, dann hat die Konkurrenz keine Chance: Mein Verhältnis zu den Sommerspielen ist schon seit 1980 betont kühl. Als ganz Moskau in die Stadien strömte, setzte ich mich mit meiner Mutter in den Vorortzug und fuhr auf die Datscha. Mama fand nicht ohne Grund, dass frische Erdbeeren besser sind als die soeben in den Moskauer Geschäften aufgetauchte Fanta und dass ihr Kind lieber selbst im Fluss plantscht als zuzuschauen, wie andere im Schwimmbecken ihre Bahnen ziehen.

Diese Präferenz hat mich für das weitere Leben geprägt. Eine Sommerolympiade nach der anderen musste ohne mich als Zuschauer auskommen. Aber diesmal war mein Interesse geweckt. Schließlich hat sogar Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, in einem Werbefilm den Gegnern unserer Olympioniken versprochen: We will ROC you!  

Melodisch

Wer es nicht weiß: ROC ist das Russian Olympic Committee. Diese drei Buchstaben zierten die Flagge, unter der die russischen Sportler antraten. Denn Russland ist weiterhin gesperrt, saubere Athleten wurden jedoch zu Spielen in Tokio zugelassen. Als Ersatz für die Nationalhymne würde ich allerdings Glinka dem 1. Klavierkonzert von Tschaikowski vorziehen. Glinkas „Patriotisches Lied“ war ein ganzes Jahrzehnt die russische Hymne, von 1990 bis 2000. Bis heute wird es im Ausland immer mal wieder aus Versehen bei Siegerehrungen gespielt. Vielleicht sollten wir zu dieser Melodie zurückkehren?

Galant

Statistisch gesehen war Fechten die erfolgreichste Sportart für Russland bei den Spielen. Von 71 Medaillen entfielen acht auf Säbel, Degen und Florett. Was gibt es da zu kommentieren? Alle haben wir Dumas gelesen und Filme über die Musketiere geschaut. Von da war es nur ein kleiner Schritt in den Sportverein. Fechten ist ein toller, attraktiver Sport. Kenner sagen, dass das traditionell unsere Paradedisziplinen sind und wir hier auch viele Medaillen holen mussten, aber das ist kein Argument. Selbst der größte Favorit kann im Wettkampf straucheln, was wir leider bei dieser Olympiade erleben mussten.

Schmerzhaft

Das passierte, wer hätte das gedacht, in der Rhythmischen Sportgymnastik. Zum ersten Mal seit 25 Jahren gab es kein Gold im Einzelwettbewerb für Russland. Warum? Für Laien ist das schwer zu beurteilen, deshalb hat der Hobbyexperte nachgeschaut, was die richtigen Experten meinen. Die erste und offenbar dominierende Version ist: Wir sind benachteiligt worden. Die Wertungsrichter hätten den Sieg zu Unrecht der Israelin Linoy Ashram zuerkannt, obwohl die bei ihrem Vortrag das Band fallen ließ. Manche denken diese Linie weiter: Man hat uns absichtlich schlechter bewertet, um Russland in die Suppe zu spucken. Andere meinen, es habe die Sportlerin mit dem schwierigeren Programm gewonnen, was höher bewertet wurde als Fehlerfreiheit. Wie auch immer, die Mädels und ihre Fans tun mir leid.

Viel hatten sich die Russen von diesen Olympischen Spielen nicht versprochen. Im Vorfeld wurde eine Umfrage bekannt, wonach 97 Prozent der Russen nicht einen einzigen russischen Olympiateilnehmer mit Namen kannten. Doch dann drehte sich die Stimmung. Viele starke Leistungen von Russlands Olympioniken sorgten zu Hause für Begeisterung. Einer der großen Helden war Jewgenij Rylow, der das erste russische Gold im Schwimmen seit 25 Jahren holte. Der Mann mit der Katzenmaske gewann insgesamt zwei Goldmedaillen im Einzel und eine Silbermedaille mit der Staffel. Insgesamt kehrte die ROC-Auswahl aus Tokio mit 71 Medaillen zurück, so vielen wie seit 2004 in Athen nicht mehr. In der Nationenwertung bedeutete das Platz drei (Platz fünf nach Goldmedaillen). (Foto: Grigorij Syssojew/RIA Novosti)

Langersehnt

Beim Kunstturnen der Männer war es genau umgekehrt: Unsere Mannschaft gewann das erste Gold seit Atlanta vor 25 Jahren. Aber wer vor dem Fernseher sitzt, der will nicht nur Siege sehen. Er erhofft sich auch noch ein Spektakel, eine Geschichte, die man nicht so schnell vergisst. Und das Kunstturnen hatte diese Geschichte zu bieten. Bei Artur Dalalojan riss drei Monate vor Olympia die Achillessehne. Damit hatte sich der Olympiatraum eigentlich erledigt. Er trainierte trotzdem, fuhr trotzdem nach Tokio und bestritt trotzdem die Wettkämpfe an allen Geräten. Ein Held, anders kann man das nicht sagen.

Schön und unschön

Völlig überraschend hat mich ein Sport gepackt, der das Gegenteil von dem ist, was mir gefällt und was ich kann. Mich für Leichtathletik zu begeistern, war bisher ein Ding der Unmöglichkeit. Spielsportarten – das ist Spannung, Action. Mit Laufen und Werfen kann ich nichts anfangen. Und das Ödeste, noch seit dem Sportunterricht in der Schule, ist Hochsprung. Aber wie die Frauen bei Olympia um den Sieg gekämpft haben, war mitreißend. Reiner Sportsgeist, nervenaufreibend, hochemotional. Bravo Maria Lassizkene, verdientes Gold! Bravo, Nicola McDermott und Jaroslawa Mahutschich auf Platz zwei und drei.

Als alles vorbei war und die Sportlerinnen, eingewickelt in ihre Landesfahnen, sich umarmten, war ich den Tränen nahe und hätte mir nicht vorstellen können, dass diese Szene der Ukrainerin Mahutschich auf die Füße fällt. Die 19-Jährige wurde zu Hause dafür teils heftig angegangen. Ein Unterfeldwebel der ukrainischen Armee und ein Hauptmann der russischen Armee in gemeinsamer Freude vereint (beide trainieren in Armeeklubs) – das geht nach Meinung einiger offenbar nicht.

Denkwürdig

Skandale sind natürlich auch ein Teil des Festes, aber nicht sie sollen uns im Gedächtnis bleiben. Man möchte die beschämende Homophobie in einem großen russischen Fernsehsender, gerichtet an die Adresse eines britischen Wasserspringers, am liebsten aus der Erinnerung tilgen. Zumal es genug Denkwürdiges gab. Saurbek Sidakow, Goldmedaillengewinner im Freistilringen, widmete seinen Sieg den Opfern des Terroranschlags von Beslan und dem Gedenken an sie. Im September 2004 war er acht Jahre alt, seine Kameraden aus dem Sportverein gehörten zu den Geiseln in der Schule Nummer eins. So etwas sitzt tief, aber Saurbek ist daran nicht zerbrochen. Sein Titel ist eine Hymne auf das Leben. Mir als Zuschauer sind solche Momente durchaus wichtiger als die Reihenfolge in der Nationenwertung.

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