Das Rätsel vom Djatlow-Pass

Waren es der KGB, der Yeti oder doch Ureinwohner? In Russland ranken sich zahlreiche Verschwörungstheorien um eine Gruppe von Wanderern, die vor 60 Jahren unter mysteriösen Umständen im Ural verunglückte. Nun will die russische Generalstaatsanwaltschaft Licht in den alten Fall bringen.

Igor Djatlow, Namensgeber des Passes, an dem er vor 60 Jahren ums Leben kam. /Foto: liferules.com.ua

Sie scherzen, posieren vor der Kamera in albernen Verrenkungen und lachen ausgelassen: Die letzten Schwarz-Weiß-Fotos der Bergsteigergruppe um Igor Djatlow zeigen neun ziemlich glücklich und optimistisch wirkende Menschen. Trotz Strapazen und nächtlicher Temperaturen von bis zu minus 30 Grad scheinen die jungen Männer und Frauen ihre Ski-Wanderung durch die verschneite Bergwelt des nördlichen Urals ausgiebig zu genießen. Ende Januar 1959 war die Gruppe um den erfahrenen Bergführer Djatlow zu ihrer Tour aufgebrochen. 16 Tage und rund 350 Kilometer sollte es durch das Gebirge entlang Gipfeln wie Otorten und Cholattschachl – dem Berg des Todes – gehen.

Spurloses Verschwinden und ein aufgeschnittenes Zelt

Die Strecke gilt unter Kennern als äußerst anspruchsvoll, aber die Teilnehmer sind sportlich, wandererfahren und gut vorbereitet. Doch in der Nacht auf den 2. Februar verschwinden die Abenteurer spurlos. Erst drei Wochen später findet ein Suchtrupp das letzte Lager der Wanderer an einem Hang des Cholattschachl. Das Bild, das sich den Rettern bietet, wirkt mysteriös. Offenbar hat jemand die Zelte von innen aufgeschnitten, die gesamte warme Winterkleidung, Ausweise, Tagebücher, Geld und sogar Schuhe wurden zurückgelassen. Chaotische Fußspuren durch den Schnee deuten auf eine kopflose Flucht vor etwas Unbekanntem hin.

Anderthalb Kilometer weiter finden die Retter dann die ersten fünf Leichen – barfuß und nur mit Unterwäsche bekleidet. Einer der Wanderer hat offenbar in Panik noch versucht, eine riesige Pinie zu erklettern. Davon zeugen abgebrochene Zweige am Fundort. Erst zwei Monate später werden die restlichen vier Vermissten in einer Schlucht nur wenige hundert Meter weiter gefunden. Die Leichen haben schwere Schädelfrakturen und Rippenbrüche, einer Toten fehlt die Zunge, zwei Mitgliedern die Augen. Zudem ist die Kleidung der Toten radioaktiv verstrahlt.

Ratlose Ermittler schließen Abschlussbericht weg

Die mit den Ermittlungen betrauten Pathologen und Kriminologen können sich keinen Reim auf das grausame Schicksal der Wanderer machen – und schließen schnell die Akten. Eine nicht näher benannte „Naturgewalt“ habe das Unglück verursacht, heißt es in dem Abschlussbericht, der erst in den 90er Jahren öffentlich zugänglich wurde.

Die mysteriösen Umstände, die ungeklärte Todesursache und das Vertuschen durch die Behörden befeuern bis heute eine riesige Zahl von Verschwörungstheorien in Russland. Im Internet finden sich unzählige Artikel zur Djatlow-Gruppe. Fernsehsender, Hobbyforscher und Sensations-Journalisten werfen regelmäßig neue Skandalmeldungen auf den Markt. Die Nachrichtenagentur Interfax zählt in einem Bericht von Anfang Februar ganze 75 Versionen auf, die von einer tragischen Liebesgeschichte über fliegende Untertassen bis zum Angriff eines Yetis reichen.

Rätselhaft: Am letzten Lagerort der Djatlow-Expedition fand ein Suchtrupp ein aufgeschnittenes Zelt. /Foto: dnpmag.com

Staatsanwalt rollt Fall wieder auf

Doch nun kommt wieder Bewegung in den mysteriösen Fall. Pünktlich zum 60. Jahrestag der Katastrophe will die russische Generalstaatsanwaltschaft das Djatlow-Drama wieder aufrollen. Die neuen Ermittlungen erfolgten auf Bitten der Angehörigen sowie des großen Interesses der Medien und der Öffentlichkeit, begründete Alexander Kurennoj, Staatsanwalt des Swerdlowsker Gebiets auf dem Internetauftritt seiner Behörde. Zudem seien die Wanderer auf einer mit offiziellen Stellen abgestimmten Route unterwegs gewesen. „Deshalb muss der Staat auch beantworten können, warum dort neun Menschen starben.“

Theorien wie Mord, den Einschlag von Raketen und andere Verschwörungstheorien schließen die Ermittler von vornherein aus. „Wir beabsichtigen, aus den 75 Versionen unter der Einbeziehung von Experten die wahrscheinlichsten drei zu überprüfen“, erläuterte Alexander Kurennoj.  Demnach sei das Unglück wahrscheinlich auf schlechte Wetterbedingungen zurückzuführen. „Es könnte eine Lawine, ein sogenanntes Schneebrett oder ein Orkan gewesen sein.“ Für einen kriminellen Hintergrund gebe es dagegen nicht einmal indirekte Indizien.

Ureinwohner, Atomtests und ein Schneemensch

Währrenddessen dreht sich das Karussell der Spekulationen munter weiter. So vermuteten manche Verschwörungstheoretiker einen Überfall geflohener und gewalttätiger Häftlinge hinter dem Unglück.  Andere verdächtigten die Mansen, ein indigenes Volk aus dem Ural, eines Angriffes aus Rache. Die Djatlow-Wanderer hätten ihr heiliges Land betreten und entweiht.  Für wilde Mutmaßungen sorgen auch immer wieder die radioaktiven Spuren an der Kleidung. Diese könnten eigentlich nur von einem geheimen Atomtest der Amerikaner kommen, schreibt ein deutscher Hobbyforscher in einer seitenlangen Untersuchung. In Russland tippen dagegen viele auf ein geheimes Atom-Versuchsgelände der Sowjetarmee, das die Gruppe entdeckt habe.

Einer anderen Version zufolge sollten die Wanderer für den Geheimdienst KGB ein mysteriöses technisches Objekt fotografieren, welches dann unerwarteter Weise auf die Gruppe schoss. Der amerikanische Schriftsteller Donnie Eicher führt die Panik der Gruppe auf Infraschall zurück. Dieser sei durch die spezifische Form der Bergrücken in Kombination mit den starken Februar-Winden entstanden. Das niedrigfrequente Geräusch sei zwar nicht zu hören, habe die Wanderer unterbewusst aber in Panik versetzt – und aus dem Zelt in den Tod getrieben.  Ein russischer Blogger machte dagegen den Einschlag einer Mittelstreckenrakete und die damit verbundene Schallwelle verantwortlich.

Lachen und alberne Posen: Ausgelassene Stimmung zu Beginn der schicksalhaften Tour. /Foto: i.pinimg.com

Psychologische Experimente und Messungen im Ural

Wie bei jeder guten Verschwörungstheorie dürfen auch im Djatlow-Fall keine übernatürlichen Gründe oder Außerirdische fehlen. So berichtet eine Wandergruppe, die sich zur gleichen Zeit in dem Gebiet aufhielt, von auffälligen leuchtenden Phänomenen am Himmel über dem Ural. Für andere steht dagegen ein lokales Monster hinter der Tragödie. Der amerikanische Discovery Channel nutzte 2014 den Fall, um die Existenz des Yetis im Ural zu beweisen. Nur der legendäre Schneemensch habe den Wanderern so starke Verletzungen zufügen können. Romantiker sehen dagegen eine tragische Dreiecksbeziehung als Grund an.

Die Generalstaatsanwaltschaft zeigt sich von den fantasievollen Erklärungen allerdings unbeeindruckt und will die Nachforschungen schon im März beginnen. Dafür werden zunächst mehrere Staatsanwälte zum Djatlow-Pass fliegen. Vor Ort wollen die Ermittler den letzten Standplatz des Zelt-Lagers ermitteln, die Neigung des Berghangs untersuchen und die Schneedicke messen. Zudem soll eine medizinische Untersuchung die Verletzungen der Toten analysieren. Frühere Obduktionen hätten zu viel „weiße Flecken“ zurückgelassen, begründete Staatsanwalt Alexander Kurennoj. In einem psychologischen Experiment werden die Kriminalisten die Reaktionen der Gruppenmitglieder unter Extrembedingungen durchspielen. Die endgültigen Ergebnisse sollen bis zum Oktober vorliegen.

Birger Schütz

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