Blüte und Niedergang eines Bildungsprojektes

Die Moskauer Higher School of Economics (HSE) galt einst als liberalste russische Hochschule. Aber jetzt verlassen viele Gründerväter die Uni. Was an der HSE passiert, erinnert an die Situation an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften, die in den 1990er Jahren ein Anziehungspunkt für Studenten und Wissenschaftler war und dann eine Abwanderung von Professoren erlebte.

Für viele Lehrkräfte geht die Tür der Higher School of Economics nun zu. (Foto: AGN Moskwa)

Am 25. September verstarb der Wirtschaftswissenschaftler Jewgeni Jasin, der die HSE gegründet hat. Mit ihm sei „eine Ära gegangen“, schrieb die Universität auf ihrer Webseite. Er sei ein Symbol der Universität, heißt es in dem Bericht. Und sein Tod sei symbolisch. Dies steht natürlich nicht mehr auf der HSE-Webseite. Aber es ist offensichtlich.

Die Blütezeit

Viele Jahre lang galt die HSE als führende Universität Russlands. Als Karriereschmiede mit qualifizierten Lehrkräften und freier Lern-Atmosphäre. Sie wurde 1992–1993 als neue, postsowjetische Wirtschaftsschule gegründet, die auf weltweit anerkannten Prinzipien der Wirtschaftswissenschaft basierte.

Seit 1995 hat sich die HSE zu einer Universität entwickelt, an der neben Wirtschaftswissenschaftlern auch Soziologen, Manager und Juristen ausbildet werden. In den 2000er gehörte sie zu den drei führenden Wirtschaftsuniversitäten des Landes. Sie bekam den Status einer Nationalen Forschungsuniversität Russlands. Sie beriet die Regierung. In den letzten Jahren belegte die HSE laut Forbes dreimal in Folge den ersten Platz im Ranking der 100 besten Universitäten Russlands.

Anfang des Niedergangs

Aber im Jahr 2020 schränkte die neue Hochschulleitung die Freiheiten der Uni ein. Laut eingeführter Richtlinien dürfen Professoren die russische Regierung nicht mehr öffentlich kritisieren, ohne darauf hinzuweisen, dass es sich um ihre private Meinung handelt. Die Mitarbeiter der Universität dürfen sich nicht mehr politisch betätigen. Man begann, unerwünschte Lehrkräfte zu entlassen. Einige von ihnen gründeten ihre eigene Freie Online-Universität. Einige Lehrkräfte verließen die Uni.

Der Exodus setzte sich in den nächsten Jahren fort. Rund 700 von etwa 7000 Lehrkräften und wissenschaftlichen Mitarbeitern der HSE verließen Russland. Einige von ihnen haben bis zum 1. September 2023 online unterrichtet. Darüber schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Andrej Jakowlew auf Facebook (gehört zu Meta, das in Russland verboten ist) und verweist auf seine „besser informierten Kameraden“. Viele Professoren, die heute noch an der Uni tätig sind, sind auf der Suche nach einer Arbeitsstelle im Ausland.

Andrej Jakowlew zählt zu den Gründervätern der Uni. Zusammen mit dem Wirtschaftswissenschaftler Igor Lipsitz kam er 1993 an die neue Uni. Beide Professoren wurden am 1. September entlassen. Jakowlew schreibt, die heutigen Prozesse an der HSE seien ein „Niedergang dieses großen und in vielerlei Hinsicht einzigartigen Bildungsprojekts, das die Higher School of Economics fast 30 Jahre lang repräsentierte.“

Der Fall RGGU

Aber die Gründung, die Blüte und der Niedergang einer postsowjetischen Trend-Universität ist nichts Außergewöhnliches in Russland. Ich habe diese Phasen schon selbst erlebt. 1995 fing ich an, an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften (RGGU) zu studieren. Sie war damals angesagt und einer der Spitzenreiter im Ranking der russischen Universitäten in den 1990er Jahren. Ein ganz neues Bildungsprojekt im postsowjetischen Format. Die Universität wurde von dem berühmten Historiker und Politiker Juri Afanasjew gegründet, der ihr Rektor wurde. An der RGGU arbeiteten führende Professoren, deren Namen im Westen wohlbekannt waren.

Ich habe von dieser Uni bei mir zu Hause in Moldawien viel Gutes gehört. Ich war sehr stolz, dass ich meinen Abschluss an dieser Universität und ihrer Graduiertenschule gemacht habe. Nach der Uni fing ich an, dort zu arbeiten.

Im Jahr 2003 kam der russische Ölkonzern Yukos an die Universität. Sein ehemaliger Vize-Präsident Leonid Newslin (als ausländischer Agent eingestuft) ersetzte Juri Afanasjew als Rektor. Das Unternehmen stellte der Universität über einen Zeitraum von zehn Jahren 100 Millionen US-Dollar für die Entwicklung zur Verfügung. Jewgeni Jasin gab damals zu, dass er „neidisch“ auf die RGGU-Professoren sei. Doch am 25. Oktober 2003 wurde der Yukos-Vorstandsvorsitzende Michail Chodorkowskij (als ausländischer Agent eingestuft) wegen Unterschlagung und Steuerhinterziehung verhaftet. Newslin wurde aufgefordert, als Rektor zurückzutreten.

Von der RGGU zu der HSE

Die Universität bekam Probleme. Viele RGGU-Lehrkräfte wechselten an die HSE. Die Medien schrieben, dass sie die Fakultäten für Geschichte und Philologie der HSE komplett besetzten. Dort wurden ihnen höhere Gehälter und höhere Positionen angeboten. Einst führende Uni des Landes, wurde die RGGU 2012 sogar als ineffektive Universität eingestuft. Es gab Gerüchte, sie könnte mit der Higher School of Economics fusioniert werden. Es war schwer für mich, die Zerstörung meiner Alma Mater mitzuerleben. 2012 verließ ich sie: Mein ohnehin schon kleines Gehalt wurde halbiert. Man sagte damals, das Yukos-Geld für den Gehaltszuschlag sei ausgegangen.

Natürlich ist die RGGU geblieben. Und auch die HSE wird weiterhin bestehen. Aber bleibt sie ohne das Gefühl der Freiheit genauso top wie in den 2010er Jahren? Wenn es in der Bildung zu viel Politik gibt, sind Veränderungen unvermeidlich.

Olga Silantjewa

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