Ausgesaugt von Moskau?

Viele Russen haben ein ambivalentes Verhältnis zu Moskau. Die Stadt sauge das Land aus, heißt es oft. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ziehen junge Russen aus der Peripherie dorthin. Wie kommt es dazu und was passiert mit den Regionen?

In Moskaus Schatten
Moskau ist für viele Russen abstoßend und anziehend zugleich. (Foto: Sofja Sandurskaja/ AGN Moskwa)

Im Winter füllt pompöser Lichterschmuck die ausgebauten Fußgängerzonen, zehn neue Metrostationen werden auf einmal eröffnet und ungeheure Summen für Gebäude­sanierungen in der ganzen Stadt ausgegeben. Moskau floriert. Doch der Reichtum der 12,6-Millionen-Me­ropole kommt nicht von ungefähr. Wie in vielen zentral regierten Staaten häufen sich finanzielle Ressourcen und Humankapital in der Hauptstadt an. Doch in Russland ist diese Entwicklung extrem. Moskau säße wie eine Spinne im Netz und sauge das ganze Land aus, klagen Russen aus den übrigen Regionen der Föderation.

„Viele Regionen sind verarmt“, meint Christian Fröhlich von der Higher School of Economics. „Von daher sind der Frust und die Vorurteile gegenüber Moskau sehr groß.“ Diese würden sich aber vor allem gegen die Regierung richten, welche in der Hauptstadt sitzt, erklärt der Soziologe gegenüber der MDZ. So steht der Wohlstand Moskaus symbolisch für die Ungleichbehandlung der Regionen durch die Zentralregierung. Die Befindlichkeiten gegenüber der Hauptstadt sind indes alles andere als substanzlos. In der Tat landet ein immenser Teil des Geldes, welches im ganzen Land erwirtschaftet wird, am Ende in der Kasse der Hauptstadt.

Große Ungleichheit im Budget

Doch wie kommt es zu dieser Akkumulation? Die Antwort da­rauf findet man in der Anschrift der größten Unternehmen des Landes. Große Player wie die Ölkonzerne Rosneft und Lukoil oder die Staatsbahn haben ihren Hauptsitz in Moskau und zahlen folglich dort ihre Steuern. Dasselbe gilt für sage und schreibe weitere 293 der 500 Top-Unternehmen Russlands. Das Resultat ist eine Stadtverwaltung, die nur so im Geld schwimmt. Während die Republik Altai, Russlands ärmste Region, nur ein Budget von 50,5 Milliarden Rubel (etwa 574 Millionen Euro) zur Verfügung hat, steht Moskau mit rund 17,9 Billionen (etwa 203 Milliarden Euro) das 354-Fache bereit.

Projekte zur Dezentralisierung der Wirtschaft konnten bis dato keine hinreichende Wirkung entfalten. „Es gibt Versuche von der Zentralregierung Sonderwirtschaftszonen zu gestalten, in denen es besondere Konditionen für Unternehmen gibt, wie zum Beispiel Steuervergünstigungen. Das hat sich aber leider nicht als Erfolg herausgestellt“, konstatiert Fröhlich.

Einige Regionen stehen zwar dank ihrer Öl- und Gasindustrien gut da. Und natürlich ist Moskau nicht der einzige Ort Russlands, an dem man gut leben kann. St. Petersburg ist, wenn auch etwas abgeschlagen hinter Moskau, nach wie vor eine Top-Destination für junge Menschen aus der Peripherie Russlands. Auch Jekaterinburg, Kasan oder Tjumen gelten als modern und lebenswert. Doch das sind nur wenige Städte in Russlands 85 Regionen.

Menschen und Geld zieht es in die Hauptstadt

Neben den fehlenden Steuereinnahmen macht den Regionen der Brain-Drain, sprich der Abzug von hoch qualifizierten jungen Menschen, Richtung Moskau zu schaffen. Gute Bildungsmöglichkeiten an den besten Universitäten des Landes locken junge Russen nach Moskau. Und mit einem Durchschnittslohn von 113 000 Rubel im Monat (etwa 1290 Euro) hat die Stadt einiges zu bieten. Außerdem zählt die Metropole zu den lebenswertesten Städten der Welt.

Dass die Hauptstadt nicht nur junge Menschen, sondern auch eine Menge Neid auf sich zieht, dürfte nicht verwundern. Nicht alle können und wollen den großen Schritt wagen und ihre Heimat Richtung Moskau verlassen. Sie bleiben in ihren Regionen, wo der Durchschnittslohn laut der staatlichen Statistikagentur Rosstat bei 56 000 Rubel (etwa 640 Euro), also bei ungefähr der Hälfte des Moskauer Schnitts, liegt. Dabei kostet das alltägliche Überleben fast genauso viel wie in Moskau.

Politische Beschwerden über die Situation aus den Gebieten, Krais und Republiken des Riesenreichs gibt es jedoch kaum. Denn der Arm der Zentralregierung ist lang. Regionale Oberhäupter sind auf das Gutdünken Moskaus angewiesen, um persönliche Vorzüge genießen und sich im Sattel der Macht halten zu können. „Die Politik ist stark beeinflusst von der Zentralmacht und kann jederzeit abgesetzt werden. Als Beispiel dient Chabarowsk mit seinem Regionalgouverneur“, erläutert Fröhlich. Die Rede ist vom oppositionellen LDPR-Politiker und ehemaligem Gouverneur der Region, Sergej Furgal, welcher 2020 des Mordes beschuldigt, verhaftet und durch seinen Parteikollegen Michail Degtjarjow ersetzt wurde.

Veränderungen gibt es zuerst in Moskau

Veränderungen erfolgen in der Regel nur, wenn sie von Moskau angestoßen werden. Ansonsten rollt der Akkumulations-Schneeball ständig weiter und wird größer und größer. Der Abzug von finanziellem und geistigem Kapital macht es den Regionen noch schwerer, ökonomisch wieder auf die Beine zu kommen. In der Konsequenz floriert Moskau immer mehr, während die Regionen weiter austrocknen. Ohne eine Intervention des mächtigen Zentralstaats sind die meisten Regionen Russlands diesem Teufelskreis wohl oder übel ausgeliefert.

In gewisser Weise stimmt es also – Moskau saugt das Land aus. Jedoch ist es nicht einfach die böse Stadt voller Maybach fahrender Dollarmillionäre, die sich an den Früchten der Regionen bereichern. Vielmehr liegt die Wurzel der Probleme in dem mit harter Hand geführten Zentralstaat.
Doch auch dieser hat Chancen. Eine liegt im Staatskapitalismus Russlands. Die Verlegung von Ministerien und Behörden aus Moskau in verschiedene Regionen wäre eine Möglichkeit, der Peripherie wieder mehr Leben einzuhauchen. Unternehmen, die auf die Nähe zu den mächtigen staatlichen Institutionen angewiesen sind, könnten nachziehen und Arbeitsplätze und Steuereinnahmen in die Regionen bringen.
Im bestehenden Machtgefüge halten die Machthaber des Zentralstaats die Zügel in der Hand. Um auf ein balancierteres Russland zuzusteuern, müssten sie jetzt bereit sein, auch ein paar weitere Hände mitlenken zu lassen.

Emil Herrmann

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