Es brodelt in Fernost

Seit der Verhaftung des Gouverneurs Sergej Furgal Anfang Juli folgte in Chabarowsk eine Großdemonstration auf die andere. Die Menschen sind wütend auf die Regierung im fernen Moskau. Dort sucht man offenbar noch nach dem richtigen Umgang mit der Protestbewegung.

Massenproteste in Chabarowsk
Zehntausende Chabarowsker gingen für ihren inhaftierten Gouverneur auf die Straße. (Foto: Reuters/ Stringer)

Chabarowsk kommt nicht zur Ruhe. Am letzten Samstag im Juli erlebte die Stadt im Fernen Osten Russlands die dritte Großdemo in Folge. Wieder ein neuer Rekord, Zehntausende waren auf der Straße. Und nicht nur am Wochenende machen die Menschen ihrem Unmut Luft. Jeden Abend treffen sich kleinere Gruppen von Demonstranten vor dem Gebäude der Regionalregierung am Ploschtschad Lenina. Es geht längst nicht mehr nur um den inhaftierten Gouverneur Sergej Furgal. Es geht gegen die Regierung im fernen Moskau. Gegen die Fremdbestimmung.

Jeden Abend ertönt ein Dauerhupkonzert in den sommerschwülen Straßen, Menschen winken vom Fußgängersteg an der Hauptstraße herab. Die Stimmung ist mal ausgelassen und beinahe feierlich, mal angespannt. Doch es bleibt friedlich. Wenn die Zahlen auch nur annähernd stimmen, dann war bei der letzten Demo jeder zehnte Einwohner Chabarowsks auf der Straße. Wie konnte es dazu kommen?

Wahlsieg ohne Wahlkampf

Am 9. Juli wurde der Gouverneur Sergej Furgal vor laufenden Kameras verhaftet und sitzt seither in Moskau in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, vor eineinhalb Jahrzehnten in Auftragsmorde verwickelt gewesen zu sein. Der Politiker war seinerzeit als Buntmetallhändler tätig, es geht um Morde an damaligen Konkurrenten in dem für seine rauen Sitten berüchtigten Geschäft.

Sergej Furgal gehört der Liberaldemokratischen Partei LDPR des Rechtspopulisten Wladimir Schirinowski an. Diese wird gerne als „Systemopposition“ bezeichnet, das heißt vom Kreml toleriert. Dass ein Gouverneur nicht der Regierungspartei Einiges Russland angehört, ist dennoch selten – und war im Fall Furgal so nicht vorgesehen. Bei den Gouverneurswahlen 2018 gewann er gegen den amtierenden Kandidaten von der Partei Einiges Russland, ohne wirklich einen Wahlkampf geführt zu haben. Das Ergebnis trägt alle Anzeichen einer Protestwahl.

„Furgal – unsere Wahl“

Doch Sergej Furgal gewann nicht nur die Wahl, sondern auch das Vertrauen der Bürger. Er zeigte sich volksnah, senkte Beamtenbezüge, auch seine eigenen. Moskau antwortete damit, dass der Sitz des Föderationskreises Fernost nach Wladiwostok verlegt wurde. Als nun beim Verfassungsreferendum die Ergebnisse in der Region Chabarowsk nicht dem Wunsch des Kremls entsprachen, war Furgals Zeit offenbar abgelaufen.

Die Reaktion der Chabarowsker ließ nicht lange auf sich warten. Schon zwei Tage nach der Verhaftung waren sie zu Tausenden auf der Straße. „Furgal – unsere Wahl“ war auf Plakaten zu lesen. Dabei halten es viele durchaus für möglich, dass an den Vorwürfen etwas dran ist. Dass der Gouverneur allerdings gerade jetzt aus dem Verkehr gezogen wurde, nachdem sich 15 Jahre lang niemand für die Fälle interessiert hat, das macht die Menschen wütend. Manche fordern die Freilassung, andere einen Prozess in Chabarowsk und nicht in Moskau.

Gegen die Bevormundung aus Moskau

„Natürlich ist er kein Engel“, sagt etwa Jelena, die in einem kleinen Hotel unweit des Ploschtschad Lenina arbeitet, „wer in die Politik will, der kann kein Heiliger sein. Aber die Leute haben ihn gewählt.“ Man wolle sich nicht von Moskau bevormunden lassen, sagt sie. In der Region liege vieles im Argen, niedrige Löhne, hohe Lebenshaltungskosten.

Die Leute seien fest entschlossen, mit den Demos weiterzumachen. Der Protest schwappte bald auf benachbarte Städte über. In Wladiwostok, das mit Chabarowsk traditionell ein rivalisierendes Verhältnis pflegt, gab es Solidaritätsbekundungen, ebenso in Komsomolsk am Amur und in Blagoweschtschensk. „Ich bin/Wir sind der Ferne Osten“ war häufig auf Transparenten zu lesen – in Anlehnung an die Proteste gegen die Verhaftung des Journalisten Iwan Golunow 2019.

Wladiwostok zeigt sich solidarisch

In Wladiwostok sind die Probleme ähnlich. Roman, der in 2000er Jahren ein Musikgeschäft geführt hat und nun von diesem und jenem lebt, beklagt das geringe Haushaltsbudget im Fernen Osten. Dazu kämen durchschnittliche Löhne von nur 30 bis 40 000 Rubel, aber Preise wie in Moskau. „Natürlich sind die Leute sauer.“

Wladiwostok: Solidarität mit Chabarowsk
„Ich bin/Wir sind der Ferne Osten“ – Solidarität in Wladiwostok (Foto: RIA Nowosti/ Witalij Ankow)

Die Polizei vor Ort ließ die Menschen bislang gewähren, obwohl keine der Kundgebungen genehmigt war. Wegen der Corona-Pandemie sind Demonstrationen derzeit ohnehin nicht erlaubt. Im Kreml schien man zunächst abzuwarten. Auf eine solche geballte Protestwelle war offenbar niemand vorbereitet. Ganze elf Tage hat es gedauert, bis Präsident Wladimir Putin Sergej Furgal wegen Vertrauensverlusts des Amtes enthob.

Ein Karrierist als Übergangslösung

Zum kommissarischen Nachfolger ernannte er Michail Degtjarjow, der ebenfalls der Partei LDPR angehört. Der gilt als pragmatischer Karrierist. Ursprünglich war er Mitglied bei Einiges Russland, doch dann wechselte er zur Partei Schirinowskis – weil er sich dort bessere Karrierechancen versprach, wie das Magazin „Meduza“ mit Verweis auf sein privates Umfeld schreibt.

Aufgefallen ist der Duma-Abgeordnete aus Samara bislang vor allem durch groteske Gesetzesentwürfe. Er wollte zum Beispiel den Umlauf von US-Dollars in Russland verbieten oder die schwarz-goldweiße Flagge des Zarenreichs wieder einführen.

„Willkommen in der Hölle“

Nach seiner Ernennung ließ er zunächst wissen, er werde nicht mit den Demonstranten sprechen. Auf dem Weg zu seinem neuen Arbeitsplatz drehte er ein Selfie-Video, mit dem er den Unmut vieler Chabarowsker auf sich zog. „Ich fand es unverschämt, wie er sich erstmal ein Eis kaufte, während eine Journalistin auf seine Antwort wartete“, sagt etwa Jelena.

Bei der folgenden dritten Großdemonstration wurde der Ton rauer. Mit Worten wie „Willkommen in der Hölle“ wurde Degtjarjow auf Plakaten empfangen. Erstmals forderten Demonstranten auch den Rücktritt von Präsident Wladimir Putin. „Russland ohne Putin“ skandierten manche. Andere kritisierten die russischen Medien.

Werden Provokateure auf den Demos eingesetzt?

Die halten sich weitgehend zurück mit der Berichterstattung. Abgesehen von kritischen Magazinen wie „Meduza“ sind es vor allem Blogger wie Alexej Nowoselow, die live aus Chabarowsk berichteten. Auf dessen Telegram-Kanal war jüngst zu sehen, dass die Lage etwas angespannter wurde. Ein Aktivist, der sich später als Walentin vorstellt, wird von zwei Männern niedergeschlagen. Polizisten greifen ein, verhaften jedoch nur ihn. Er kommt einige Stunden später frei und äußert die Vermutung, es seien gezielt Provokateure eingesetzt worden.

Man wolle sich aber nicht provozieren lassen, ist oft zu hören. „Wir sind eine zivilisierte Stadt“, sagt etwa ein Demonstrant namens Rostislaw, der seinen Food-Truck zum „Furgal-Mobil“ aufgerüstet hat. Auf Bilder von Vandalismus könne man lange warten, es seien anständige Leute, die hier auf die Straße gingen.

Der Kreml wartet ab

Damit hat er offenbar Recht. Das dürfte auch Michail Degtjarjow wissen – wenngleich er zunächst „Ausländer aus Moskau“ beschuldigte, die Proteste angestachelt zu haben. Auch in Moskau dürfte man sich über die Lage sehr wohl im Klaren sein.

Ein so grob auftretender Interimsgouverneur wie Degtjarjow mag zwar nicht zur Entspannung beitragen, soll aber vielleicht die Funktion eines Blitzableiters erfüllen. Geklappt hat das offenbar nicht, hat sich doch der Protest erst nach dessen Ernennung auch gezielt gegen den Präsidenten gerichtet.

Die zögerliche Haltung der Sicherheitskräfte verwundert mittlerweile auch die Medien. Der Radiosender „Echo Moskwy“ fragte Kremlsprecher Dmitrij Peskow, wie man es erkläre, dass im Fernen Osten nicht genehmigte Demonstrationen geduldet würden, während man sie andernorts rigoros auflöse. Peskow bleib eine klare Antwort schuldig. Am 27. Juli ließ er wissen, die Situation in Chabarowsk habe sich mittlerweile beruhigt. Das ist wohl eher Wunsch als Wahrheit.

Jiří Hönes

Chabarowsk: Metropole im Fernen Osten Russlands

Mit etwas über 600.000 Einwohnern ist Chabarowsk die größte Stadt des Föderationskreises Fernost. Die meisten Russen kennen den Ort vor allem vom 5000-Rubel-Schein. Acht Flugstunden östlich von Moskau pflegt man hier eher Beziehungen zu China, Südkorea und Japan. Die wirtschaftliche Verflechtung mit diesen Ländern ist eng. Chabarowsk ist ein wichtiger Industriestandort, Schiffbau und Ölwirtschaft sind bedeutende Branchen. Die Lebenshaltungskosten in der Stadt gelten als extrem hoch.

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