Auf dem Holzweg

Besonders in der Pilzsaison gehen regelmäßig Menschen in russischen Wäldern verloren. Es sind so viele, dass die staatlichen Rettungsdienste sich kaum um alle Fälle kümmern können. Die Hilfsorganisation „Lisa Alert“ füllt diese Lücke mit Freiwilligen.

Der Suchtrupp, der Lew Golow im Wald aufgespürt hat © Lisa Alert

Allein in der Region Moskau haben sich in diesem Jahr bereits über 1000 Menschen so tief im Wald verirrt, dass sie auf Hilfe angewiesen waren. Besonders im Sommer und Herbst, wenn zahlreiche Menschen in die Wälder strömen, um Beeren und Pilze zu sammeln, häufen sich die Fälle. Bei 17 Suchaktionen kamen in diesem Jahr sogar schon Hubschrauber oder Drohnen zum Einsatz, wie der Vizegouverneur der Region, Dmitrij Pestow, mitteilte.

Wer einen deutschen Wald mit seinen Wandermarkierungen und breiten Wegen für die Holzabfuhr gewöhnt ist, dem mag es wie ein Märchen aus alten Zeiten vorkommen, dass man sich im Wald verirren kann. In einem so dünn besiedelten Land wie Russland sieht das ganz anders aus. Schon im Moskauer Umland gibt es Waldstücke, in denen kilometerlang jeglicher Orientierungspunkt fehlt. Wer hier einmal den Überblick verloren hat, der geht unter Umständen kilometerweit in die falsche Richtung.

Tragischer Vermisstenfall als Gründungsanlass

So erging es Mitte September dem 75-jährigen Lew Golow aus Ljuberzy, einem südöstlichen Nachbarort von Moskau. Er war in den nahegelegenen Wald gegangen und bis zum Abend nicht heimgekehrt. Dass er noch in der Nacht wohlbehalten gefunden wurde, ist der Hilfsorganisation „Lisa Alert“ zu verdanken. Diese wurde vor neun Jahren gegründet, um nach vermissten Personen zu suchen. Der traurige Anlass: In Orechowo-Sujewo in der Region Moskau kamen die vierjährige Lisa und ihre Tante nicht aus dem Wald zurück. Zunächst kümmerten sich Suchtrupps des Katastrophenschutzministeriums um den Fall.

Doch dann kam der Schock. Das Personal wurde nach einigen Tagen abgezogen, da es in der Nachbarschaft zur Sicherung eines Stadtfests gebraucht wurde. Nach einem Aufruf über soziale Medien beteiligten sich mehrere hundert Freiwillige an der Suche. Nach zehn Tagen wurden die beiden schließlich tot aufgefunden. Das Tragische daran: Die Obduktionen ergaben, dass sie erst einen oder zwei Tage zuvor an Unterkühlung gestorben waren. Die Helfer kamen also nur knapp zu spät.

Einige der Freiwilligen hatten damals die Idee, eine Organisation zu gründen, um in ähnlichen Fällen schneller vor Ort zu sein – die Geburtsstunde von „Lisa Alert“. Die MDZ hat sich mit Wladimir Katschur unterhalten, der seit vielen Jahren dabei ist. „In dieser Form ist das erst durch die sozialen Medien möglich geworden, Menschen zu mobilisieren und sich schnell zu organisieren.“ Und das ist offenbar ein Segen. „Ich dachte immer, wenn ich mich verirre, dann wird mit Suchtrupps und Spürhunden nach mir gesucht. Doch das Katastrophenschutzministerium hat viel zu wenig Personal und einen Haufen anderer Aufgaben“, berichtet der Ehrenamtliche.

Koordination vom Rechner aus

Die Kommunikation im Ernstfall läuft bei „Liza Alert“ über ein Internetforum, alles ist öffentlich einsehbar. Der Name, Informationen zur Kleidung, ein Bild, Ort und Zeit des Verschwindens, mehr findet man in der Regel nicht. Es gibt immer einen „Infork“, eine Person, die zuhause vom Rechner aus die Aktion koordiniert. Bei ihr melden sich die Helfer an, Mitfahrgelegenheiten werden organisiert, Telefonnummern getauscht. Der „Koordinator“ dagegen organisiert die Suche vor Ort. „Wir teilen das Gelände in Quadrate von 500 Metern Seitenlänge ein. Eine typische Aufgabe ist es, in zwei oder drei dieser Quadrate zu suchen.“

Zusätzlich zur Suche werden Steckbriefe an Bushaltestellen aufgehängt und Anwohner befragt. Ist eine Suche beendet, melden sich die Freiwilligen beim „Infork“ ab. So wird vermieden, dass jemand selbst verloren geht. Nicht immer hat die Suche ein Happy End wie bei Lew Golow. „Erst vor wenigen Tagen haben wir einen 21-Jährigen verloren“, erzählt Katschur. Gleb Skolosubow studierte Biologie an der Lomonossow-Universität und war mit einer Gruppe Studenten zum Zelten unterwegs, am Flüsschen Nerskaja nahe dem Dorf Anziferowo. Das hat dort Tradition, die Erstsemester lernen die älteren Studenten kennen, man macht Lagerfeuer, es gibt Musik, Alkohol und Drogen.

Am Ende war Gleb nicht mehr zu finden. „Lisa Alert“ wurde zu Hilfe gerufen. 170 Leute beteiligten sich an der Suche im ausgedehnten Waldgebiet, viele davon waren Studenten seiner Universität. Am zweiten Tag stellte sich  heraus, dass er im Fluss ertrunken war, nur wenige Meter vom Zeltplatz entfernt.

Pilzsaison ist Hochsaison

Besonders in den vergangenen Monaten hatte „Lisa Alert“ Hochsaison. Die meisten Vermissten sind ältere Menschen, nicht selten sind sie an Demenz erkrankt, auch Betrunkene sind oft darunter. Doch wenn im Sommer und Herbst die Wälder voller Pilze sind, dann sind es auch gesunde Menschen, die sich verirren. Katschur hält viel von der russischen Tradition des Pilzesammelns, doch er mahnt zur Vorsicht. „Da parkt jemand irgendwo im Wald, geht 500 Meter in eine Richtung, ist zunächst vorsichtig, doch dann entdeckt er hier ein paar Pilze, dann da, die reinste Glückssträhne – und plötzlich hat er vergessen, aus welcher Richtung er kam.“

Schon in einem Wald von zwei mal zwei Kilometern habe man ohne besondere Kenntnisse praktisch keine Chance, wieder herauszufinden, gibt er zu bedenken. „Manchmal haben wir allein in der Region Moskau dutzende Suchaktionen an einem Tag.“ Insgesamt gab es in Russland im Jahr 2018 13996 Suchen. Davon wurden 11027 Personen lebend gefunden, 1519 fand man tot und 966 blieben vermisst.

Als gemeinnützige Organisation nehme man kein Geld an, so Katschur. Man lebe von Sachspenden:  Navigationsgeräte, Batterien, Druckerpapier. Die Angehörigengeretteter Personen spenden oft großzügig. Bei einer Tankstellenkette können Kunden Sprit für Suchaktionen spenden, den die Helfer dann dort abholen. Eine Fluglinie nimmt Helfer samt Equipment kostenlos zu Einsätzen mit und mehrere Mobilfunkanbieter schicken  kostenlos Suchaufrufe per SMS an die Kunden in bestimmten Orten. „Das Wichtigste sind aber die Menschen, die sich an der Suche beteiligen“, sagt Katschur.

Für Angehörige, die auf Vermisste warten, hat er eine wichtige Botschaft: „Zögert nicht mit der Meldung!“ Ein falscher Alarm sei nichts Schlimmes und je früher die Suche beginne, desto besser. Außerdem solle man immer seinen Angehörigen Bescheid geben, wenn man in den Wald gehe: Wohin gehe ich genau? Wann komme ich voraussichtlich zurück?

Jiří Hönes

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