Der Zug rollt wieder. Zumindest im Hinterkopf, denn in der neuen Verfilmung des Romans „Anna Karenina“ verschwindet die ikonische Szene, in der sich die tragische Ehebrecherin vor den Zug wirft. Stattdessen lässt der Regisseur Karen Schachnasarow Anna im Nebel einer schwarzen Kutsche, die von wild galoppierenden schwarzen Pferden gezogen wird, entschwinden. Ein symbolisches Ende, das vielen Russen und Kritikern missfällt. Auch die Episode des russisch-japanischen Krieges, die im Roman nicht vorkommt, erzürnt die Gemüter.
Der Titelzusatz „Wronskis Geschichte“ zeigt, dass Schachnasarow eine neue Version des alten Epos verfilmt hat: 30 Jahre später begegnet Wronski auf dem Schlachtfeld Serjoscha Karenin, Annas Sohn. Wie bei der beliebten amerikanischen Serie „How I met your Mother“ erzählt Wronski Serjoscha aus seiner Sicht, wie ihre leidenschaftliche Liebe ein tragisches Ende nahm.
Das am häufigsten verfilmte Werk der Weltliteratur
Es ist mittlerweile die 33. Verfilmung des Romans. Und wahrscheinlich auch nicht die letzte. Denn es scheint so, als ob jede Generation „ihre“ Anna haben möchte. Greta Garbo in den 30er Jahren, Vivien Leigh in den 40ern, Tatjana Samojlowa in den 60ern, Sophie Marceau in den 90ern und Keira Knightley in den 2010ern. Und nun Elisaweta Bojarskaja, die Anna Karenina in der neuen russischen Verfilmung verkörpert.
Allein in Russland kamen dieses Jahr noch zwei weitere Streifen heraus. Der Film „O Ljubwi“ und „Anna Karenina. Ein intimes Tagebuch“ spielen zwar in der heutigen Zeit, der Stoff ist aber der gleiche: Eine verheiratete Frau begeht Ehebruch, brennt mit dem Liebhaber durch und büßt am Ende für ihre Sünden.
Außerdem läuft im Operetten-Theater das Musical „Anna Karenina“, das am 22. April die 100. Vorstellung feierte. Auch das Wachtangow-Theater inszeniert aktuell Annas amour fou mit Graf Wronski.
Es war das Antlitz von Maria Alexandrowna Gartung, Puschkins Tochter, das Tolstoi inspiriert haben soll, Anna Karenina zu kreieren. Graue ausdruckstarke Augen, die von dunklen, dichten Wimpern umrahmt sind und lockige schwarze Haare, die eigenwillig im Nacken und an den Schläfen hervorspringen. Hier liegt Tolstois Hang zu kleinen Details, die beim Lesen fast unbemerkt bleiben, aber viel über den Protagonisten verraten. So eigenwillig wie Annas Locken ist auch ihr Charakter. Die Konsequenz ihres Verlangens nach dem adretten Offizier Graf Wronski ist nicht nur das gesellschaftliche Ende, sondern auch ihr Tod.
Glück und Unglück
Was aber macht den Reiz von Anna Karenina aus, der neben „Effi Briest“ und „Madame Bovary“ zu den drei großen Ehebruchromanen des 19. Jahrhunderts gehört? Schließlich muss sich heute keine Frau nach einem Seitensprung vor einen Zug werfen, Arsen trinken oder an Schwindsucht sterben. Weil das Leben als Ehepaar trotz allen gesellschaftlichen Veränderungen noch immer der Ort sei, wo Glück und Unglück am heftigsten aufeinanderprallen, heißt die Antwort des Literaturwissenschaftlers Wolfgang Matz.
Glück und Unglück sind die Konstanten im Roman. „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“, lautet nicht umsonst der meist zitierte Satz. „Anna Karenina ist nicht nur in Russland gefragt. Sie war es zu allen Zeiten, denn die Geschichte handelt von Leidenschaft und Liebe, der Beziehung zwischen Mann und Frau, Gesellschaft und Individuum“, erklären die Produzenten des Musicals „Anna Karenina“ Wladimir Tartakowskij und Alexej Bolonin. Diese Werte würden immer aktuell sein.
Jede Adaption ist auch Abdruck und Interpretation ihrer Zeit. In Karen Schachnasarows – übrigens der Leiter des russischen Mosfilm – Werk dominieren Neurosen und Krieg. Kommt das dem Publikum nicht bekannt vor?
Von Katharina Lindt