Bei der Bolschoi-Premiere von „Anna Karenina“ haben Sie die Titelrolle der Primaballerina Swetlana Sacharowa anvertraut. Haben Sie diese Entscheidung bereits im Vorfeld der Produktion getroffen?
Die Zusammenarbeit mit Swetlana Sacharowa bildete einen wesentlichen Impuls für die Entscheidung, „Anna Karenina“ tatsächlich zu kreieren. Als mein Ballett „Die Kameliendame“ im Bolschoi-Theater gezeigt wurde, habe ich mit ihr an der Titelrolle gearbeitet und war sehr beeindruckt, wie sie sich in den Proben und Aufführungen auf diese Figur einließ. Nach der letzten Vorstellung kam sie zu mir mit der Frage, ob sie in Zukunft auch die Titelrolle in meinem Ballett „Tatjana“ tanzen könnte. In Gedanken versunken ging ich mit der Pressesprecherin zu meiner Garderobe und sagte: „Swetlana will Tatjana tanzen. Das ist nicht ihre Rolle, aber vielleicht Anna Karenina …“.
Für mich war immer klar, dass ich das Ballett in Hamburg kreieren würde: mit den Tänzern meiner Kompagnie und den vertrauten Mitarbeitern aus den technischen Abteilungen. Eine ganze Saison habe ich mir dafür Zeit genommen und dabei nahezu durchgängig mit nur einer Besetzung gearbeitet, wobei ich die Titelrolle mit unserer Ersten Solistin Anna Laudere geschaffen habe. Allmählich rückt die Premiere am Bolschoi-Theater näher und ich bin gespannt, welche Akzente Swetlana in die Gestaltung dieser Rolle einbringen wird.
Offenbar ist „Anna Karenina“ Ihr erstes Ballett, in dem eine historische Handlung die zeitgenössische Politik illustriert. Bei der Premiere in Hamburg erinnerte mich Ivan Urbans Darstellung von Karenin an den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalnyj – ein Zufall?
Große Kunst ist zwar in der Lage, grundlegende Entwicklungen der eigenen Zeit zu spiegeln. Ich halte aber nichts davon, konkrete Personen oder Ereignisse bei der Kreation eines Balletts zu berücksichtigen. Im Fall von „Anna Karenina“ habe ich mich tatsächlich davon inspirieren lassen, dass politische Fragen zunehmend wieder ins Alltagsbewusstsein der Menschen zurückgekehrt sind, beispielsweise durch den sehr umstrittenen Präsidentschaftswahlkampf in den USA.
Davon abgesehen möchte ich betonen, dass Leo Tolstoi „Anna Karenina“ nicht als Historienroman schrieb, sondern die Handlung ganz aktuell in seiner eigenen Zeit ansiedelte. Der Krieg beispielsweise, der im letzten Buch eine prominente Rolle spielt, war zu dem Zeitpunkt, als Tolstoi die Arbeit am Roman begann, noch gar nicht ausgebrochen. Bei der Kreation war es mir ein Anliegen, diese Grundsatzentscheidung Tolstois zu respektieren und auch mein Ballett im aktuellen Zeitgeschehen anzusiedeln.
In den zahlreichen Verfilmungen von „Anna Karenina“ wurde die Titelheldin mal zu einem Opfer, mal zu einer Heldin der Zeit oder der Sexualität und der gesellschaftlichen Verhältnisse gemacht. Warum verliert Annas Geschichte kaum an Aktualität, obwohl Scheidungen in unserer Zeit zur Normalität gehören?
Auf den ersten Blick mag es so wirken, als ob unsere Gesellschaft seit Tolstois Zeiten erheblich liberaler geworden ist. Das trifft aber nicht auf alle Bereiche zu – besonders, wenn es um Prominente geht. Wie bei Tolstoi ist Karenin auch in meinem Ballett ein Politiker in höchster Position. Um die Brisanz seines Berufs für den Verlauf der Handlung zu unterstreichen, befindet sich Karenin in meinem Ballett als Spitzenkandidat im Wahlkampf. In dieser Situation steht das Privatleben unter schärfster Beobachtung und es ist auch heute noch keineswegs gleichgültig, ob die Ehe intakt ist: Eine schöne und treu sorgende Gattin mag als Vorteil gelten, eine Liebesaffäre der Ehefrau ist dagegen ein Desaster.
Die Figur Lewin, der in Ihrem Ballett sogar am Steuer eines Traktors sitzt, ist wie ein Sonnenschein, der uns in der Dunkelheit des Daseins Vertrauen, Liebe und auch Hoffnung auf die Zukunft vermittelt. Was verkörpert Lewin für Sie?
Lewin ist eine ganz zentrale Figur. Bei Tolstoi hat er die Tendenz, sich die Probleme dieser Welt durch Grübeln zu eigen zu machen. Das ist in einem Ballett kaum darstellbar. Um seine Bedeutung zu unterstreichen, habe ich ihm die Musik von Cat Stevens zugeordnet. Beide verbindet die sehr ernsthafte Suche nach einem tiefen Sinn im Leben. Lewin ist ein Aristokrat im Sinne Tolstois: Er zählt die Bäume auf seinem Land und pflegt es in verantwortungsvoller Weise, um es einmal an die nächste Generation weitergeben zu können. Diese tiefgründige und doch einfache Bodenständigkeit hebt ihn von allen anderen Figuren ab.
„Anna Karenina“ ist eine Koproduktion des Hamburg Ballett, des Bolschoi-Theaters und des National Ballet of Canada. Werden die Aufführungen in Hamburg, Moskau und Toronto identisch sein – oder gehen Sie auf die Persönlichkeit der führenden Tänzer ein?
Als lebender Choreograf nehme ich es grundsätzlich für mich in Anspruch, meine Werke für jede einzelne Aufführung neu zu durchdenken. Die Inspiration dazu kann durch die Zunahme an Lebenserfahrung, aber auch ganz praktisch durch neue Tänzerbesetzungen und Aufführungsorte entstehen. Dieses Vorgehen ist für mich eine seit Jahrzehnten praktizierte Routine und hat beispielsweise zur Folge, dass mir auf Tourneen mit dem Hamburg Ballett immer wieder bestätigt wird, wie beeindruckend und einzigartig frisch unsere Aufführungen wirken.
Bei der Vorbereitung von Premieren habe ich erheblich mehr Zeit, meine Choreografie gründlich zu prüfen. Insofern blicke ich mit großer Vorfreude auf die kommenden Proben zu „Anna Karenina“ am Bolschoi-Theater!
Das Gespräch führte Elena Solominski.