Alltag zwischen zwei Ufern

Zu Besuch in einem idyllischen Stück Russland: Westlich von Jaroslawl pendelt eine Flussfähre zwischen beiden Ufern der Wolga. Sie verbindet zwei Teile der Stadt Tutajew, die aus den einst selbständigen Orten Borisoglebsk und Romanow besteht.

Das Fährschiff SP-44 vor der Kasaner Christi-Verklärungskirche in Tutajew (Foto: Jiří Hönes)

Das Städtchen Tutajew in der Region Jaroslawl liegt auf beiden Seiten der hier noch relativ schmalen Wolga. Mit seinen etwa 40 000 Einwohnern bietet der Ort einen Mix aus Postkartenidylle mit zahlreichen historischen Kirchen an den Hängen über dem Flussufer und einer sozialistischen Planstadt auf der Anhöhe rechts der Wolga. Und er wartet mit einer kleinen Besonderheit auf: Wer hier von der einen Seite zur anderen will, der ist auf eine Fähre angewiesen. Die nächste Brücke befindet sich 40 Kilometer flussabwärts in Jaroslawl.

So findet sich hier alles Mögliche am Fähranleger ein: Ein mit einer Holztreppe beladener Pkw wartet, während gerade ein Servicefahrzeug der Rostelekom von Bord des kleinen Fährschiffs mit dem schlichten Namen SP-44 rollt. Dazu gesellen sich ein paar Motorradfahrer und Ausflügler, die zu Fuß auf die andere Seite möchten. „Wir befördern so ziemlich alles: Autos, Busse, auch große Kamaz-Lastwagen und das Müllauto der Stadtverwaltung“, sagt die Fahrkartenverkäuferin Olga. Einmal die Stunde fährt das Schiff vom einen Ufer zum anderen, die Überfahrt dauert etwa 15 Minuten. Betrieb herrscht von 6 Uhr morgens bis halb 11 Uhr am Abend.

Schon seit vier Jahrzehnten pendelt die SP-44

Das ist allerdings nur im Sommerhalbjahr möglich. „Wir fahren meist von Mitte April bis Mitte November“, so Olga. Im Winter friert die Wolga manchmal fest genug zu, dass man hinüberfahren kann. In diesem Jahr war das aber nicht der Fall, wie sie erzählt. „Da ist dann ein Umweg über Jaroslawl fällig, das dauert weit über eine Stunde.“

Blick auf das einstige Borisoglebsk mit der Auferstehungskirche (Foto: Jiří Hönes)

Insofern ist man in Tutajew froh über die Fährverbindung. Schon vier Jahrzehnte pendelt die SP-44 hier zwischen beiden Ufern. Das Schiff ging 1980 bei der Wolgograder Werft vom Stapel. Baugleiche Exemplare des Typs 603A sind auf der Wolga, der Kama und dem Irtysch als Fähren unterwegs. Etwas über 32 Meter lang und knapp 12 Meter breit ist das Schiff und bietet Platz für rund zwölf Autos.

Während Fahrzeuge auf die Fähre angewiesen sind, lassen sich Fußgänger auch gerne einmal mit einem privaten Motorboot auf die andere Seite bringen. Das kostet zwar etwas mehr als die 35 Rubel, die auf der Fähre in Tutajew fällig sind, dafür spart man sich die Wartezeit.

Eine neue Seilbahn soll die Wende bringen

Zumindest für Fußgänger bietet sich in absehbarer Zeit noch eine ganz andere Möglichkeit. Inspiriert von Nischnij Nowgorod soll bald eine Seilbahn die beiden Seiten der Stadt miteinander verbinden. Das Projekt wird mit Geldern eines Förderprogramms für die Infrastruktur in kleinen historischen Ortschaften finanziert. Geplanter Baubeginn ist schon im Herbst dieses Jahres, so Jurij Pawlow, Abgeordneter der Regionalduma von Jaroslawl.

Ein Servicewagen der Rostelekom wurde übergesetzt. (Foto: Jiří Hönes)

Vielleicht lockt das Seilbahnprojekt dann auch den einen oder anderen Touristen mehr in das schmucke Städtchen. Das ist nämlich durchaus eine Reise wert. Entlang der beiden Uferhänge haben sich zahlreiche Kirchen aus dem 17. und 18. Jahrhundert erhalten. Herausragend restauriert ist die zwischen 1652 und 1687 erbaute Auferstehungskirche. Hier sind zahlreiche alttestamentliche Wandbilder aus dem späten 17. Jahrhundert zu bewundern. Zudem beherbergt die Kirche die Ikone des barmherzigen Erlösers, die bereits aus einer früheren Kirche hierher kam. Unter dem Bild führt ein kleiner Tunnel hindurch. Wer diesen auf Knien durchquert, der soll von seelischen und körperlichen Beschwerden geheilt werden.

Aus Romanow-Borisglebsk wird Tutajew

Der heutige Name verrät es nicht, doch die Stadt Tutajew geht auf einen Zusammenschluss zurück. Rechts der Wolga befand sich der Ort Borisoglebsk, links Romanow. Schon im Jahr 1822 wurden die beiden auf Bestreben von Zar Alexander I. vereinigt und trugen fortan den Namen Romanow-Borisoglebsk. Infolge der Oktoberrevolution wurde 1918 die Umbenennung in Tutajew beschlossen, nach dem im Bürgerkrieg gefallenen Rotarmisten Ilja Tutajew, der in der Stadt gelebt hatte.

Im 20. Jahrhundert entwickelte sich vor allem das einstige Borisoglebsk zur Industriestadt, doch das Wolgaufer und der jenseitige Teil der Stadt behielten ihren altertümlichen Charakter. Initiativen zur Rückkehr zum alten Namen fanden breite Unterstützung in der Politik, doch die Bevölkerung sprach sich mehrfach dafür aus, beim Namen Tutajew zu bleiben.

Unbeeindruckt von solchen Fragen pendelt die SP-44 Stunde für Stunde zwischen Borisoglebsk und Romanow hin und her – und verbindet beide zur Stadt Tutajew.

Jiří Hönes

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