Aller Schulanfang ist schwer

Von der Wolga an die Spree: Die Russlanddeutsche Uljana Iljina (48), Lehrerin, Übersetzerin und Texterin, ist als Spätaussiedlerin nach Deutschland gekommen. In ihrer MDZ-Kolumne „Deutschland-Tagebuch“ schreibt sie aus Berlin darüber, wie sie ihre neue Heimat – die Heimat ihrer Vorfahren – erlebt.

Insignien des neuen Schulalltags in Berlin (Foto: Uljana Iljina)

Die Berliner Verkehrsbetriebe haben meine leisen Zweifel widerlegt und meine stille Hoffnung erfüllt. Es dauerte weniger als eine Woche, bis die Schülertickets für meine beiden Töchter per Post zugestellt wurden. Damit können sie nun alle öffentlichen Verkehrsmittel in der Stadt völlig kostenlos nutzen. Also auch zur Schule, wo sie neuerdings lernen. Wie bereits erwähnt, hat mich das anderthalb Monate Anrufe, Briefe, persönliche Vorsprachen und, ja, auch einige Nerven gekostet.

„Momentan sind keine Plätze frei“

Die Information über schulpflichtige Kinder unter Neuankömmlingen im Ausländerwohnheim geht jeweils sofort an das Schulamt. Theoretisch beginnt dann die Suche nach einer Schule für sie. In unserem Falle war die Auskunft auch nach einer, nach zwei, nach drei Wochen immer dieselbe: „Sie müssen noch warten. Momentan sind keine Plätze frei. Wann sich das ändert, ist ungewiss.“

Meine Töchter seien „für Schulplätze vorgemerkt“, hieß es auch in der Antwort des Schulamts auf eine schriftliche Anfrage. Weiter schrieb die zuständige und offenbar überlastete Mitarbeiterin: „Derzeit kommen sehr viele Geflüchtete mit schulpflichtigen Kindern in die Stadt. Alle diese Kinder müssen mit Schulplätzen versorgt werden! Das bedeutet eine große Herausforderung für uns alle.“

Das Ausrufezeichen in einem amtlichen Schreiben gab mir zu verstehen, dass die Mitarbeiterin offenbar ungleich größere Herausforderungen zu bewältigen hat als ich. Um sie wenigstens von einer Sorge zu befreien, habe ich mich nach einer anderweitigen Lösung umgesehen. Die fand sich dann auch. Nicht über das Schulamt, sondern die Senatsverwaltung. Und im Nachbarbezirk. Aber das war mir egal, als nach einigen Tagen die Einladung für eine Willkommensklasse in einem Berliner Gymnasium kam.

Hogwarts in Lichterfelde

Ich habe mich total gefreut, was man von meinen Kindern nicht behaupten kann. Vier Monate ohne Schule seit unserer Ausreise aus Russland und die unklaren Perspektiven hatten ihre Sinne dafür, dass ihnen ja doch irgendwann wieder ein Schulalltag drohte, eingeschläfert. Als sie dann auf einmal mit der Tatsache konfrontiert waren, dass es schon in drei Tagen so weit sein würde, beschlich sie der Verdacht, dass da nichts Gutes auf sie zukommt. Meine ganze Überzeugungsarbeit, dass sie eine tolle Lehrerin haben würden und dass ihre Mitschüler aus aller Herren Länder schließlich auch Deutsch-Anfänger seien, konnte dagegen wenig ausrichten.

In dieser Stimmung und mit weichen Knien sind wir dann also zu dritt zu ihrer neuen Schule gefahren, dem Lilienthal-Gymnasium in Lichterfelde. Das Schulgebäude könnte rein äußerlich auch für Hogwarts Pate gestanden haben, was nicht verwunderlich ist: Die Einrichtung wurde Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet. Das Gelände ist riesig, mit Anlagen zum Ausruhen, zum Spielen unter freiem Himmel und einer großen Sporthalle.

Innen handelt es sich um eine zeitgemäße Schule, die sich nicht sonderlich davon unterscheidet, was wir aus Russland kannten. Wobei eines dann doch ungewohnt war: Den Kindern stachen die Aufschriften und Zeichnungen ins Auge, mit denen die Schulbänke verziert und die in sie eingeritzt sind, und sie wunderten sich über den Müll in einem der Klassenräume. In Russland, meinten sie zu Recht, würden den Eltern dafür zumindest vor allen Leuten die Leviten gelesen, wenn sie nicht sogar Schadenersatz leisten und gemeinsam mit ihren Kindern Aufräumarbeit leisten müssten.

Erste Erlebnisse in der Willkommensklasse

Der erste Schultag geriet erwartungsgemäß zum Kulturschock. „Wir verstehen überhaupt nichts. Als ob wir geistig zurückgeblieben wären.“ Meine Töchter, die in Russland zuletzt in die siebente und neunte Klasse gingen, haben von dort durchaus Vorkenntnisse der deutschen Sprache mitgebracht. Aber die Begegnung damit in der Praxis war dann doch noch mal etwas anderes. Ich weiß, dass das alle durchmachen. Um diese Barriere zu überwinden, braucht es einfach Zeit, Willen und Aufgeschlossenheit. In der Willkommensklasse wird schwerpunktmäßig Deutsch gelernt. Wer die Sprache gut genug beherrscht, wird in eine Regelklasse versetzt.

Schon nach dem zweiten Schultag haben meine Kinder aufgeregt erzählt, dass sie sich mit einem Mädchen aus dem Iran auf Englisch unterhalten haben, dass Mitschülerinnen aus der Ukraine und aus Russland sie in ein Freizeitzentrum mitnehmen wollen und dass der Junge, der immer lächelt, Deutsch, Englisch, Türkisch und Kurdisch spricht. All ihre Erlebnisse und Emotionen teilen sie mit ihren Freunden in Russland, denn mit dem hiesigen Internet habe ich mich nun auch angefreundet. Aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.

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