„All das hätte nie passieren dürfen“

Mit den Ereignissen in der Ukraine ist auch der russische Sport in die Schusslinie geraten. Groß­ereignisse, die in Russland stattfinden sollten, wurden in andere Länder verlegt, russische Sportler für internationale Wettbewerbe gesperrt. Die Athleten und ihr Umfeld kommentieren die Situation selten. Ein paar – sehr unterschiedliche – Stimmen aus den letzten Wochen verdienen umso mehr Beachtung.

Auch das war russischer Sport in diesem Frühjahr. Und danach hatten sich wohl viele gesehnt. Das Pokalfinale zwischen Spartak und Dynamo (2:1) geriet zu einem hochemotionalen Spektakel vor 69.000 Zuschauern im Luschniki-Stadion. Spartak wurde nach 19 Jahren wieder Pokalsieger. Das Foto ist eine Szene aus diesem Video: www.youtube.com/watch?v=z6zwBTCgfL4 Ein paar Eindrücke gibt es auch hier: www.youtube.com/watch?v=1-ncc5lLMgw&t=104s

Denissow

Igor Denissow (38) war einer der erfolgreichsten Fußballer, die Russland je hatte. Er hat 53 Länderspiele für Russland bestritten, 2008 mit Zenit St. Petersburg den UEFA-Cup und den Supercup gewonnen, war viermal Meister mit Zenit und mit Lokomotive Moskau. Nach der Meistersaison mit Lok, in der er als Kapitän eine der prägenden Figuren war, beendete er 2019 kurzerhand seine Karriere, als die neue Klubführung ihn zu Gehaltskürzungen drängte. Denissow galt eben nicht nur als nimmermüder Kämpfer im Mittelfeld, sondern auch als Gerechtigkeitsfanatiker, der äußerst dünnhäutig reagieren konnte, wenn ihm oder Kollegen seiner Meinung nach übel mitgespielt wurde.

Kürzlich hat der vierfache Familien­vater, dessen Großmutter eine Überlebende der Leningrader Blockade ist, eines seiner seltenen Interviews gegeben. Im Video für den Youtube-Kanal des Sportjournalisten Nobel Arustamjan spricht er auch lange und sichtlich bewegt über die russische „Sonderoperation“ in der Ukraine. „Ich bin dagegen. Es gibt viele, die dagegen sind. Warum sollen die nicht den Mund aufmachen dürfen? Das verstehe ich nicht.“ Seine Mutter und seine Schwester hätten ihm gesagt: Misch dich nicht ein. „Aber ich bin nun mal so, wie ich bin. Für mich ist das alles eine Katastrophe. Vielleicht bin ich nicht belesen genug, vielleicht kenne ich mich nicht genug in Geschichte aus. Aber ich verstehe nicht, wie im Jahr 2022 so etwas möglich ist.“

Gedanken an eine Emigration hätten er und seine Frau gleich wieder verworfen. „Ich bin Russe durch und durch, ein Junge vom Hinterhof. Ein Leben im Ausland kann ich mir nicht vorstellen. Und warum sollte ich auch weggehen? Ich bin hier geboren, meine Kinder sind hier geboren. Das ist mein Land. Und ich liebe mein Land. Lieber wohne ich bei uns im Wald als in einer Villa in Spanien.“ Das Beispiel ist nicht einfach aus der Luft gegriffen. Denissow verkauft gerade sein Ferienhaus in Spanien.

Wenn er nicht schon vor drei Jahren mit dem Fußball aufhört hätte, dann wäre es am 25. Februar so weit gewesen, sagt der Ex-Profi. „Unter diesen Umständen hätte ich nicht Fußball spielen können. Ich konnte ja tagelang kaum schlafen.“

Bykow

Wjatscheslaw Bykow (61) hätten sie in Russland fast ein Denkmal gebaut. Der Eishockey-Trainer hat die Nationalmannschaft 2008 zum ersten Weltmeister-Titel nach einer 15-jährigen Durststrecke geführt. 20 Jahre davor hatte er als Spieler Olympiagold gewonnen und vier Jahre später noch mal. Heute lebt Bykow in der Schweiz. In einem Interview mit dem russischen Internetmagazin „Absatz“ äußerte er sich so zur aktuellen Lage: „Die Russophobie im Westen kennt keine Grenzen. Alles, was Russland und die Russen betrifft, wird negativ betrachtet.“ Die Europäer, so Bykow, hätten es leider bis heute nicht vermocht, den Russen in die „Seele“ zu schauen. „Das ist bis zu einem gewissen Grade auch unsere Schuld, aber andererseits: Wenn man die Seele eines anderen ergründen möchte, dann zeigt man Interesse.“

Die Russen hätten nie jemandem ihre Ideen aufzwingen wollen. „Aber wir möchten auch nicht, dass man uns sagt, wie wir zu leben haben. Man sagt, dass wir Aggressoren sind und dass Putin ein Diktator ist. In Wirklichkeit sind es die Amerikaner zusammen mit den Europäern, die ihre Aggressionen in anderen Ländern demonstrieren.“ Die Russen dagegen seien eine „friedliebende Nation“, aber „man stellt uns ganz anders dar“. Für Russland komme es jetzt darauf an, die Situation zu analysieren und keine Stagnation zuzulassen. Man müsse im Gegenteil den Weg der Evolution gehen und nach vorn schauen.

Lassizkene

Maria Lassizkene (29) ist amtierende Hochsprung-Olympiasiegerin und gewann als erste Frau drei Weltmeisterschaften in ihrer Disziplin. Anfang Juni hat die namhafte Leichtathletin einen wütenden offenen Brief an den deutschen IOC-Chef Thomas Bach geschrieben, den sie wegen der Sperren für russische Sportler scharf angriff. Darin heißt es: „In vier der letzten sieben Jahre hatte ich keine Möglichkeit, an internationalen Wettkämpfen teilzunehmen, obwohl gegen mich persönlich nie etwas vorlag. Mit einer Ausnahme. Der Internationale Leichtathletikverband zieht bei jeder Gelegenheit seinen Trumpf in Form meines russischen Passes aus dem Ärmel. Und Sie lassen das zu. Gerade passiert es wieder, nur diesmal auf Ihre unmittelbare Veranlassung hin.“

Bach sei es offenbar egal, was russische Athleten über die Situation in der Ukraine denken. „Ich weiß bis heute nicht, was ich den ukrainischen Mädels, meinen Kolleginnen vom Fach, sagen und wie ich ihnen in die Augen schauen soll. Sie, ihre Freunde und Verwandten machen durch, was kein Mensch durchmachen sollte. Ich bin überzeugt, dass all das nie hätte passieren dürfen. Und niemand überzeugt mich vom Gegenteil. Aber Sie wissen von all dem nichts.“ Bach habe vielmehr die einfachste Entscheidung getroffen: „Sperren nach Staatszugehörigkeit“.

Lassizkene schreibt: „Die Fans lieben die Athleten nicht nach nationalen Kriterien, sondern für ihre Leistungen. Meiner Meinung nach wäre es für die olympische Bewegung und den Sport als Ganzem längst an der Zeit, auf Flaggen und Nationalhymnen bei allen Wettkämpfen zu verzichten.“

Sawin

Jewgeni Sawin (38) war ein mäßig begabter Fußballer, als er noch für russische Fußballklubs der zweiten und dritten Garnitur spielte. Doch als Videoblogger-Frohnatur hat er mit seinem Kanal „Krassawa“ Maßstäbe gesetzt. Über eine Million Abonnenten schauen regelmäßig die unterhaltsamen Videos um die Höhen und Tiefen des russischen Fußballs und seiner Protagonisten. Vor zwei Jahren hat Sawin auch noch seinen eigenen Fußballklub gegründet, der bisher in der dritten Liga gekickt hat und dessen Schicksal Tausende Kinder und Jugendliche im Lande mit großer Begeisterung auf Youtube mitverfolgen.

Doch seit der frühere Stürmer für ein Video ukrainische Profis zum Geschehen in ihrem Land befragte, darunter Nationalmannschaft-Kapitän Andrej Jarmolenko, haben sich viele von ihm abgewandt. Das Stadion „Sorki“ im Moskauer Vorort Krasnogorsk als Trainingsstätte des Klubs beendete die Zusammenarbeit. Das Wettbüro Winline stieg als Sponsor aus. Im Fernsehsender Match TV lief eine Talkshow, die mit „Der Judas von Youtube“ betitelt war. Sawins Mutter wurde von Unbekannten angerufen und gefragt, was sie da eigentlich für einen Sohn großgezogen habe. Der Blogger erzählte später russischen Medien, so habe er seine Mutter noch nie erlebt: „Sie hat 50 Minuten am Telefon geschluchzt. Was soll das? Wen soll ich verraten haben? Sagt es mir wenigstens ins Gesicht!“ Ende Mai hat Sawin Russland Richtung Zypern verlassen.

Tino Künzel

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