Abheben auf der Wolga (und anderswo)

Es könnte sich schon herumgesprochen haben: Russland ist von dem einen oder anderen Fluss durchzogen. Weil die Entfernungen zwischen den daran gelegenen Städten oft beträchtlich sind, verkehren hier und da schnelle Tragflächenboote im Linien- oder Ausflugsverkehr. Immer noch. Und manchmal auch wieder.

Schnittig: Das Schnellboot Meteor 120R (hier auf der Wolga) erinnere an einen „teuren Sportwagen“, hieß es in einem Telegram-Kanal (Foto: Anlegestelle Kosmodemjansk)

Meteor-218 wurde am 29. September 1987 zu Wasser gelassen. Für die Gorki-Werft in Selenodolsk, einer Stadt in Tatarstan, wird das kein großes Ereignis gewesen sein. Sie hat zu Sowjetzeiten fast 400 Meteore gebaut. Es war eine der erfolgreichsten Serien unter den sowjetischen Tragflächenbooten, neben den Raketen, Kometen und wie sie sonst noch hießen.

Doch wenige Jahre später wurde die Sowjetunion außer Dienst gestellt. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen war der kostenintensive Hochgeschwindigkeitsverkehr vielerorts nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Fertigung von Tragflächenbooten kam in den 1990er Jahren zum Erliegen. Von den bis dahin seit Ende der 1950er Jahre um die 900 produzierten Exemplaren werden heute noch etwa 60 betrieben. Sie befördern Touristen von St. Petersburg nach Peterhof, von Petrosawodsk nach Kischi oder von Sortawala nach Walaam. Für viele Anwohner des Ob und seiner Nebenflüsse in Sibirien sind sie ein reguläres Verkehrsmittel wie Bus oder Bahn. Gleiches gilt für den noch mal 4000 Kilometer weiter östlich gelegenen Amur.

Technik von gestern im Russland von heute

Auch Meteor-218 ist bis heute im Einsatz. Zwischen Jaroslawl und Rybinsk sprintet der rüstige Oldtimer mit bis zu 60 Kilometern pro Stunde über die Wolga. Für Moskauer ist das die nächstgelegene Möglichkeit, dieses technische Wunderwerk zu bestaunen oder sogar eine Fahrt damit zu unternehmen. Speziell von außen hat das Boot mit seiner runden Frontpartie und den umlaufenden Panoramafenstern nach wie vor Klasse. Innen wirkt es teilweise aber etwas lieblos möbliert und verbreitet eher den Charme eines Wartesaals.

Absolviert wird täglich eine Fahrt in beide Richtungen. In Rybinsk geht es 10.20 Uhr los, die Ankunft in Jaroslawl ist 12 Uhr. Die Rückfahrt startet vom Flussbahnhof in Jaroslawl um 14.10 Uhr, mit Ankunft in Rybinsk um 16.20 Uhr. Unterwegs wird jeweils ein Zwischenhalt in Tutajew eingelegt, dessen Kirchen und Steilufer auch eines der Highlights an der Strecke sind.

Das Ticket kostet 370 Rubel, umgerechnet rund 3,90 Euro. Es kann direkt beim Einsteigen gelöst werden. Ortskundige berichten, dass sich der Andrang unter der Woche in Grenzen hält, die Plätze am Wochenende aber knapp werden können, weshalb ein etwas früheres Erscheinen an der Anlegestelle zu empfehlen ist.

Wer will, kann die Reise auch um ungefähr die Hälfte verlängern, denn ihr Start- beziehungsweise Endpunkt ist das Dorf Breitowo. Dessen jahrhundertlange Geschichte liegt heute überwiegend auf dem Grund des Rybinsker Stausees. Beim Bau eines Wasserkraftwerks wurden Anfang der 1940er Jahre große Teil der Umgebung geflutet. Breitowo hat man damals immerhin evakuiert und am neuen Ufer wiederaufgebaut. Die Dorfkirche ist kaum zehn Jahre alt.

Was die Fahrt lohnt, ist aber auch die Passage durch die Rybinsker Schleuse und der Blick auf die Mutter-Wolga-Statue. Sie wurde 1953 auf einer Landzunge in der Nähe der Schleuse errichtet.

Die nächste Generation

Seit einiger Zeit bevölkern nun auch die Nachfolger der Sowjet-Meteore und ihrer Geschwister die russischen Gewässer. Die Stückzahlen sind einstweilen gering: Von Kometa 120M, Meteor 120R, Waldai 45R und Meteor-2020 wurden bisher keine 20 Exemplare hergestellt. Doch allein dass es zu diesen Neuauflagen gekommen ist und das Streckennetz der damit bedienten Routen Jahr für Jahr wächst, darauf deutete lange Zeit wenig hin. Die Buchstaben in den Typenbezeichnungen stehen für das bevorzugte Revier der Schnellboote: M für Morje, also Meer, R für Reka, den Fluss. Die Zahlen bezeichnen die maximale Passagierkapazität.

Das erste neuzeitliche Meteor-Boot wurde 2021 an die Sewerretschflot nach Chanty-Manssijsk ausgeliefert, auch ein zweites ging in diese westsibirische Region. Im Linienverkehr auf dem Ob müssen dort mitunter gewaltige Strecken zurückgelegt werden, wie etwa von Chanty-Manssijsk in den fast 400 Kilometer Luftlinie entfernten Ort Berjosowo. Er ist in der warmen Jahreszeit nur übers Wasser und aus der Luft zu erreichen.

Nischni Nowgorod als Drehkreuz

An der Wolga gibt es da schon mehr Alternativen. Dennoch ist der Wasserweg oft der kürzeste, zumindest aber eine sehr reizvolle Option. Als Dreh- und Angelpunkt für den modernen Schnellboot-Verkehr hat sich Nischni Nowgorod 400 Kilometer östlich von Moskau etabliert. Das mag daran liegen, dass sich die Millionenstadt nach allen Seiten sehr günstig geografisch einsortiert und zudem nicht nur an der Wolga, sondern auch an der Oka liegt. Es hat aber wohl vor allem damit zu tun, dass sich hier das sogenannte Zentrale Konstruktionsbüro befindet, in dem schon die sowjetischen Tragflächenboote entworfen wurden und das heute auf seiner Werft in Tschkalowsk auch die neueste Generation baut.


Fahrten mit modernem Gerät können auch auf dem Schwarzen Meer unternommen werden. Seit 9. Juni verkehrt ein Tragflächenboot vom Typ Kometa 120M zwischen den beliebtesten russischen Badeorten Anapa und Sotschi (Fahrzeit 5:45 Stunden, Preis 7000 Rubel, also etwa 74 Euro). Auf dem Don geht es von Rostow am Don ins 30 Kilometer entfernte Asow mit einem Waldai 45R. Zahlreiche interessante Routen eröffnen sich auch von Kasan aus, wobei man dort auf die in Selenedolsk heute produzierten Meteor-2020 setzt.


Mit dem kleineren Waldai und dem größeren Meteor fährt der Verkehrsbetrieb Wodoljot (vodoletnn.ru) etwa ein Dutzend Städte in nah und fern an. Die mit zwölf Stunden längste Fahrt führt seit diesem Jahr über Tscheboksary und Kasan bis nach Uljanowsk. Da ist die Platzwahl wichtig. Von der ersten Reihe sehe man eigentlich nur Himmel und spüre jede Welle, schreibt der Telegram-Kanal „Dear Passengers“.

81.500 Passagiere hat Wodoljot nach offiziellen Angaben 2023 mit seinen Tragflächenbooten befördert. Damit hätte sich die Zahl in nur zwei Jahren verdoppelt. Allerdings brauchte es dafür massive Zuschüsse aus dem regionalen Haushalt. Allein im Vorjahr waren es 150 Millionen Rubel (1,6 Millionen Euro).

Noch für dieses Jahr geplant ist eine neue Strecke nach Jaroslawl. Dort könnte es dann zum „Familientreffen“ mit Meteor-218 kommen.

Tino Künzel

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