Als Sergej Saljotin die Luke der Raumstation „Mir“ hinter sich schloss, ahnte der Kosmonaut nichts vom schnellen Ende des pannenanfälligen Vorpostens im All. „Wir waren uns aber bewusst, dass die Tage der ‚Mir‘ gezählt waren“, sagt der Russe zwei Jahrzehnte später der Deutschen Presse-Agentur in Moskau. An diesem Dienstag vor genau 20 Jahren, am 16. Juni 2000, verließ Saljotin mit seinem Kollegen Alexander Kaleri die „Mir“ – als letzte Menschen.
„Es war unser gemeinsames Zuhause“, sagt der heute 58-Jährige. Das Potenzial der Station sei nicht ausgeschöpft gewesen, habe er während des Rückflugs zur Erde gedacht. Die Ausrüstung für Experimente hätte mindestens noch drei bis vier Jahre „ziemlich nützlich“ sein können.
Eigentlich war Kaleris und Saljotins Mission so etwas wie eine Notoperation, um die fliegende Station doch noch zu retten. Etliche Lecks dichteten die beiden Männer während ihrer 72 Tage im All ab. „Was meinen Sie, was das für eine Arbeit war, so ein Riesending wieder flott zu kriegen“, sagte Bordingenieur Kaleri danach. Zu diesem Zeitpunkt war noch offen, ob die „Mir“ etwa zu einem Weltraum-Hotel umgerüstet werden könnte. Doch es fehlten Geldgeber.
Es kam, wie es kommen musste
So kam es, wie es wohl kommen musste: Am 16. November 2000 beschloss die Regierung in Moskau, die Raumstation aufzugeben. Am 23. März des darauffolgenden Jahres verglühte das marode Sowjet-Erbe kontrolliert in der Atmosphäre und ging als Trümmerhagel im Südpazifik östlich von Neuseeland nieder. Nach etwa 86 300 Erdumrundungen liegen die Reste der „Mir“ auf dem Meeresgrund.
Was von ihr bleibt? Sie gilt als Meilenstein der bemannten Raum- fahrt. Ihr Name, der übersetzt „Frieden“ oder „Welt“ bedeutet, steht auch für die Zusammenarbeit der einstigen Konkurrenten im Kalten Krieg: 1995 lässt Russland erstmals US-Astronauten an Bord. Mit diesem Schritt soll nicht zuletzt der Weiterbetrieb der Station finanziell gesichert werden. Noch heute forschen Russen und Amerikaner gemeinsam auf dem Nachfolger der „Mir“, der Internationalen Raumstation ISS.
Die „Mir“ sei nicht nur technologisch ein ganz wichtiger Schritt für die Präsenz der Menschen im All gewesen, sagt Europas Raumfahrtchef Jan Wörner. „Die ‚Mir‘ hat auch die geopolitische Dimension der Raumfahrt sehr eindrucksvoll belegt.“ Für ihn sei die Station auch ein Beleg für die Fähigkeit der Kosmonauten und Astronauten gewesen, mit schwierigen Situationen wie etwa einem Brand an Bord umzugehen.
1997 bricht in der Sauerstoffanlage ein Feuer aus, das die Besatzung mit dem Feuerlöscher eindämmen kann. Im gleichen Jahr rammt ein Versorgungsschiff die Station und reißt ein Leck in die Haut. Mehr als 1500 Pannen zählt die Bodenstation in den 15 Lebensjahren der „Mir“ – ein bitterer Rekord für die stolze Raumfahrtnation Russland.
Die ISS als Nachfahrin der „Mir“
Insgesamt mehr als 100 Raumfahrer forschten rund 400 Kilometer über der Erde und mussten dabei auch als Handwerker einspringen. „Leider war es nicht gelungen, andere Länder zur Mitfinanzierung zu bewegen“, sagt Wörner, der Leiter der Europäischen Raumfahrtagentur Esa. Das Ende der „Mir“ sei aber zugleich der Anfang der ISS gewesen.
Die 1986 gestartete „Mir“ sollte die Überlegenheit der Sowjetunion im All beweisen. Der Kreml reagierte damit auf den verlorenen Wettlauf zum Mond. Das war ein bitterer Schmerz für die Sowjets. Heute gilt die Raumfahrt als eines der wenigen Gebiete, wo Russland und die USA ungeachtet politischer Spannungen noch zusammenarbeiten.
Die russische Raumfahrtbehörde Roskosmos überlegt schon, eine neue Station zu bauen. Versenken oder demontieren: Wie es dann mit der ISS weitergehen soll, ist unklar. Im Kosmonautenmuseum in der russischen Hauptstadt Moskau können Raumfahrt-Fans schon seit Langem in die „Mir“ einsteigen – zumindest in einen Nachbau der Station.
1995/96 arbeitete der deutsche Astronaut Thomas Reiter 177 Tage auf der „Mir“. Aus heutiger Sicht sei die Ausstattung schlicht gewesen, meint der 62-Jährige. „Man ist durch die ISS ein wenig verwöhnt. Aber damals war man am Ziel seiner Träume, an Bord einer Raumstation – und das war eben die Umgebung, in der man zu leben hatte.“
Ein Vorbild für die Zukunft
Teilweise sei es „richtiges Handwerk“ gewesen. „Wenn ich überlege, welche Reparaturen wir über die Woche zu erledigen hatten, zum Teil mit Lötkolben. Die wissenschaftlichen Experimente wurden aber nicht beeinträchtigt. Für die ISS hat man von der ‚Mir‘ sehr viel gelernt. “
Das Ende der „Mir“ sei schmerzhaft gewesen, erzählt Reiter. „Der Tag, an dem mein Zuhause für ein halbes Jahr in der Atmosphäre verglühte, war ein trauriger Moment.“ Aber man dürfe nicht vergessen, dass die „Mir“ ursprünglich nur für sechs Jahre im All angelegt war. „Oben war sie letztlich 15 Jahre. Sie war zuletzt in keinem guten Zustand.“
2006 arbeitete Reiter schließlich 166 Tage lang auf der ISS. Er hofft auf eine weitere Zusammenarbeit von Russland, den USA, Europa – und vielleicht China. „Eine solche Kooperation wird immer geprägt von der großen Politik einerseits, aber auch von den Menschen, die tagtäglich in diesem Programm arbeiten. Und auf beiden Seiten gab und gibt es Menschen, die diese Zusammenarbeit wirklich gelebt haben und leben“, sagt er. Europa habe die Vermittlerrolle immer gut gestanden.
Christian Thiele und Wolfgang Jung (dpa)